308 - Ein Planet wird vermisst
weißt.«
»Deswegen rede ich mit dir darüber. Diese Wahlen werden nicht stattfinden.«
»W... was?«
Maya nickte bekräftigend. »Bei der gegenwärtigen Situation kann ich es nicht verantworten, meinen Sitz jemand anderem zu überlassen. Und ich sehe keine Kandidatin und erst recht keinen Kandidaten, die geeignet wären.«
Chandra war fassungslos. »Maya, das ist nicht dein Ernst! So führt man keine Demokratie!«
»Solange es ProMars gibt, und solange ich Leto nicht unter Kontrolle bekomme, habe ich keine Wahl. Das Volk kann nicht auf mich verzichten.«
»Tut mir leid, Maya«, Chandra stand ruckartig auf, »aber unter diesen Umständen musst du in Zukunft auf mich verzichten. Da mache ich nicht mit!«
»Chandra, du verkennst die Lage«, erwiderte Maya ungerührt. »Matthew hat uns vor dem Streiter gewarnt. Alarmierende Anzeichen deuten darauf hin, dass er bald eintreffen könnte. Wir brauchen jetzt ein geeintes Volk, und ich habe nun mal die meiste Erfahrung im Umgang mit solchen Gefahren.«
»Hat Windtänzer dir das eingeflüstert? Hat er dir wieder den Kopf verdreht?«
»Das hat damit nichts zu tun.«
»Doch, das hat es!« Chandras Temperament ging mit ihr durch. »Er hat dir schon immer blöde Flausen in den Kopf gesetzt!«
»Er ist nicht mehr der Mann, den du gekannt hast. Jetzt setz dich wieder hin und hör mir zu!« Mayas Stimme wurde scharf.
Chandra setzte sich widerstrebend. Die Kluft zwischen ihnen schien immer größer zu werden. Allmählich fragte sie sich, was die Marsianer überhaupt von den irdischen Ahnen unterschied. Bisher hatte sie ProMars für den Feind gehalten, den es zu bekämpfen galt. Doch wie es aussah, gab es überhaupt keine Freunde mehr.
Unwillkürlich dachte sie an Matthew Drax. Er hat alles kaputtgemacht , dachte sie. Durch ihn ist alles anders geworden .
Schön, wenn es so einfach wäre und sie alles auf einen Mann abschieben könnte, der mehr als hunderttausend Kilometer entfernt lebte.
Die Wahrheit aber war: Die Marsianer hätten niemals zum Erdtrabanten fliegen dürfen. Und die Besatzung von damals hätte niemals in solche Positionen gelangen dürfen. Maya und Leto.
Und wieder nein: Auch das stimmte nicht vollends und war nur die halbe Wahrheit. Schließlich hatte es in der Zeit des Aufbruchs Cansu Alison Tsuyoshi zu zweifelhafter Präsidentinnenehre gebracht, und die war eine machtgierige, bestechliche Schlampe gewesen.
Chandras nach dem Beben mühsam gekittetes Weltbild brach erneut zusammen.
»Hast du mir zugehört?«
»Ja, Maya. Du willst, dass ich öffentliche Termine organisiere, damit du deine Nähe zum Volk demonstrieren kannst. Du willst ihnen beibringen, dass die Öffnung zur großen Schwester Erde notwendig ist, weil Isolation nicht nur Stagnation, sondern auch Rückschritt bedeutet. Und du willst sagen, dass du dem Volk so lange erhalten bleibst, wie es dich braucht.«
»Kannst du mit dieser Strategie leben?«
»Verdammt, ja. Ich werde es tun. Und dich dabei ganz genau im Auge behalten, Cousine, das verspreche ich dir.« Nervös war sie vorhin noch gewesen? Lachhaft. Maya wollte sich zur Autokratin hochschwingen! Das würde sie nicht zulassen.
»Ich bin auf dem richtigen Weg, Chandra.«
»Es gibt keinen richtigen Weg mehr, Maya. Leto und du, ihr habt das beide geschickt eingefädelt. Es gibt längst keinen Rat mehr, und nun auch keine Wahlen. Bald werdet ihr überlegen, was mit den Leuten geschehen soll, die euch im Weg sind.« Wütend stand Chandra auf, diesmal endgültig. Ein gutes Essen war ihr verleidet worden.
»Du hast keine Ahnung, was auf uns zukommt«, sagte Maya. »Wenn der Streiter eintrifft, werden wir alle gemeinsam handeln müssen. Dann spielen Geplänkel keine Rolle mehr, dann geht es ums nackte Überleben.«
»Hat das Windtänzer prophezeit?«
»Ja. Und er sagte auch, dass ich alles verlieren werde.« Maya verschränkte die Finger ineinander. »Deshalb werde ich meine Pflicht tun. Wie alle Tsuyoshi-Frauen, die Präsidentinnen gewesen sind, Cansu ausgenommen. So wie du auch deine Pflicht erfüllen wirst.«
»Die Wahl wäre ohnehin nur eine Farce, willst du sagen? Das Haus Tsuyoshi regiert sowieso immer?«
»Wenn alles vorbei ist, kannst du dich aufstellen lassen, Chandra, denn glaube mir: Ich werde die Erste sein, die zurücktritt, falls wir diese Prüfung lebend überstehen.«
»Ich werde dich daran erinnern, Cousine, und dann werden wir sehen.«
***
Der letzte Sprung. Die Schleuse öffnete sich und gab den Blick frei auf
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