3096 Tage
Ohnmacht. Der Täter hatte leichtes Spiel mit mir. Er war i Meter 72 groß, ich nur 1,50. Ich war dick und sowieso nicht besonders schnell, zudem schränkte der schwere Rucksack meine Bewegungsfreiheit ein. Das Ganze hatte nur wenige Sekunden gedauert.
Dass ich entführt worden war und dass ich vermutlich sterben würde, war mir in dem Augenblick bewusst, in dem sich die Wagentür hinter mir schloss. Vor meinen Augen flimmerten die Bilder vom Trauergottesdienst für Jennifer, die im Januar in einem Auto missbraucht und ermordet worden war, als sie versucht hatte zu fliehen. Die Bilder vom Bangen der Eltern um die missbrauchte Carla, die bewusstlos in einem Teich gefunden worden war und eine Woche später starb. Ich hatte mich damals gefragt, wie das wohl ist: sterben, und das danach. Ob man Schmerzen hat, kurz vorher. Und ob man wirklich ein Licht sieht.
Die Bilder vermengten sich mit einem Durcheinander an Gedanken, die mir durch den Kopf rasten. Geschieht das gerade wirklich? Mir?, fragte eine Stimme. Was für eine Schnapsidee, ein Kind zu kidnappen, das funktioniert doch nie, sagte eine andere. Warum ich? Ich bin klein und dick, ich passe doch nicht in das Beuteschema eines Kidnappers, flehte die nächste. Die Stimme des Täters holte mich zurück. Er befahl mir, mich auf den Boden des Laderaums zu setzen, und schärfte mir ein, mich nicht zu rühren. Wenn ich seinen Anweisungen nicht folgen würde, könne ich was erleben. Dann stieg er über den Sitz nach vorn und fuhr los.
Da es keine Trennwand zwischen Fahrerbereich und Laderaum gab, konnte ich ihn von hinten sehen. Und ich konnte hören, wie er hektisch Nummern in sein Autotelefon eintippte. Aber offenbar erreichte er niemanden.
Währenddessen hämmerten die Fragen in meinem Kopf weiter: Wird er Lösegeld erpressen? Wer wird es zahlen? Wohin bringt er mich? Was ist das für ein Auto? Wie spät ist es jetzt? Die Scheiben des Lieferwagens waren bis auf einen schmalen Streifen am oberen Rand abgedunkelt. Ich konnte vom Boden aus nicht genau sehen, wohin wir fuhren, und ich traute mich nicht, den Kopf so weit zu heben, dass ich durch die Windschutzscheibe sehen konnte. Die Fahrt erschien mir lang und ziellos, ich verlor rasch das Gespür für Zeit und Raum. Aber die Baumkronen und Strommasten, die immer wieder an mir vorbeizogen, gaben mir das Gefühl, als würden wir im Kreis durch das Viertel fahren.
Reden. Du musst mit ihm reden. Aber wie? Wie spricht man einen Verbrecher an? Verbrecher verdienen keinen Respekt, die Höflichkeitsform erschien mir nicht angebracht. Also du. Die Anrede, die eigentlich für Menschen reserviert war, die mir nahestanden.
Ich fragte ihn absurderweise zuerst nach seiner Schuhgröße. Das hatte ich mir aus Fernsehsendungen wie »Aktenzeichen XY ungelöst« gemerkt. Man muss den Täter genau beschreiben können, jedes noch so kleine Detail war wichtig. Aber natürlich bekam ich keine Antwort. Stattdessen befahl mir der Mann barsch, ruhig zu sein, dann würde mir auch nichts geschehen. Ich weiß bis heute nicht, wie ich damals den Mut aufbrachte, mich über seine Anweisung hinwegzusetzen.
Vielleicht, weil ich mir sicher war, dass ich ohnehin sterben würde - dass es nicht schlimmer werden konnte.
»Werde ich jetzt missbraucht?«, fragte ich ihn als Nächstes.
Diesmal bekam ich eine Antwort. »Dazu bist du viel zu jung«, sagte er. »Das würde ich nie tun.« Dann telefonierte er wieder. Nachdem er aufgelegt hatte, sagte er: »Ich bringe dich jetzt in einen Wald und übergebe dich den anderen. Dann habe ich mit der Sache nichts mehr zu tun.« Diesen Satz wiederholte er mehrmals, schnell und fahrig: »Ich übergebe dich und dann habe ich nichts mehr mit dir zu tun. Wir werden uns nie wiedersehen.«
Wenn er mir Angst hatte einjagen wollen, dann hatte er damit genau das richtige Stichwort gefunden: Seine Ankündigung, mich an »andere« zu übergeben, raubte mir den Atem, ich wurde starr vor Schreck. Er brauchte nichts weiter zu sagen, ich wusste, was damit gemeint war: Kinderpornoringe waren seit Monaten Thema in den Medien. Es war seit dem letzten Sommer keine Woche vergangen, in der nicht über Täter diskutiert worden war, die Kinder entführten, sie missbrauchten und dabei filmten. Vor meinem inneren Auge sah ich alles ganz genau vor mir: Gruppen von Männern, die mich in einen Keller zerren, mich überall anfassen, während andere Fotos davon machen. Bis zu diesem Moment war ich überzeugt davon gewesen, dass ich bald sterben
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