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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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mich der Täter wieder in die Decke: Dunkelheit, stickige Luft. Er hob mich hoch, und ich spürte, wie er mich mehrere Treppen hinabtrug: ein Keller? Unten angekommen, legte er mich auf den Boden, zerrte mich an der Decke ein Stück vorwärts, schulterte mich wieder und ging weiter. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis er mich wieder absetzte. Dann hörte ich, wie sich seine Schritte entfernten.
    Ich hielt den Atem an und lauschte. Nichts. Es war absolut nichts zu hören. Trotzdem dauerte es, bis ich es wagte, mich vorsichtig aus der Decke zu schälen. Rund um mich herum herrschte absolute Dunkelheit. Es roch nach Staub, die schale Luft war seltsam warm. Unter mir spürte ich den kalten, nackten Boden. Ich rollte mich darauf zusammen und wimmerte leise. Meine eigene Stimme klang in der Stille so seltsam, dass ich erschrocken aufhörte. Wie lange ich so liegen blieb, weiß ich nicht mehr. Ich versuchte anfangs noch, die Sekunden zu zählen und die Minuten. Einundzwanzig, zweiundzwanzig ... murmelte ich vor mich hin, für die Länge der Sekunden. Mit den Fingern versuchte ich, die Minuten festzuhalten. Ich verzählte mich immer wieder, dabei durfte mir das doch jetzt nicht passieren! Ich musste mich doch konzentrieren, mir jedes Detail merken! Aber schnell hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren. Die Dunkelheit, der Geruch, der Ekel in mir hervorrief, all das legte sich über mich wie ein schwarzes Tuch.
    Als der Täter zurückkam, brachte er eine Glühbirne mit, die er in eine Halterung an der Wand schraubte. Das grelle Licht, das so plötzlich aufflammte, blendete mich und brachte keinerlei Linderung: Denn nun sah ich, wo ich mich befand. Der Raum war klein und kahl, die Wände waren mit Holz verkleidet, eine nackte Pritsche war mit Haken an der Wand montiert. Der Boden war aus hellem Laminat. In der Ecke stand eine Toilette ohne Deckel, an einer Wand befand sich ein Doppelwaschbecken aus Nirosta.
    Sah so das geheime Versteck einer Verbrecherbande aus? Ein Sexclub? Die Wände mit dem hellen Holz erinnerten mich an eine Sauna und setzten eine Gedankenkette in Gang: Sauna im Keller - Kinderschänder - Verbrecher. Ich sah dicke, schwitzende Männer vor mir, die mich in diesem engen Raum bedrängten. Für mich als Kind war eine Sauna im Keller der Ort, an den solche Leute ihre Opfer lockten, um sie dort zu missbrauchen. Doch es gab keinen Ofen und keinen dieser Holzkübel, die sich normalerweise in Saunas befinden.
    Der Täter wies mich an, aufzustehen, mich in einem gewissen Abstand vor ihm hinzustellen und mich nicht von der Stelle zu rühren. Dann begann er, die Holzpritsche abzumontieren und die Haken, an denen sie befestigt war, aus der Wand zu schrauben. Währenddessen redete er mit einer Stimme auf mich ein, die Menschen in der Regel für ihr Haustier reservieren: beschwichtigend und sanft. Ich solle keine Angst haben, es würde alles gut werden, wenn ich nur machte, was er mir befahl. Er sah mich dabei an, wie ein stolzer Besitzer seine neue Katze betrachtet - oder schlimmer: wie ein Kind ein neues Spielzeug. VöDer Vorfreude und gleichzeitig unsicher, was man damit alles anstellen kann.
    Nach einiger Zeit ebbte meine Panik langsam ab und ich wagte es, ihn anzusprechen. Ich flehte ihn an, mich gehen zu lassen: »Ich werde niemandem etwas erzählen. Wenn du mich jetzt freilässt, bemerkt niemand etwas. Ich werde einfach sagen, ich bin weggelaufen. Wenn du mich nicht über Nacht behältst, passiert dir ja nichts.« Ich versuchte, ihm zu erklären, dass er einen schweren Fehler beging, dass man mich bereits suchen und ganz sicher finden würde. Ich appellierte an sein Verantwortungsgefühl, ich bettelte um Mitleid. Doch es war zwecklos. Er machte mir unmissverständlich klar, dass ich die Nacht in diesem Verlies verbringen würde.
    Hätte ich geahnt, dass dieser Raum für 3096 Nächte mein Rückzugsraum und mein Gefängnis zugleich sein würde, ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte. Wenn ich heute zurückblicke, sehe ich, dass allein das Wissen, diese erste Nacht im Keller bleiben zu müssen, einen Mechanismus in Gang setzte, der wohl lebensrettend war - und zugleich gefährlich. Was eben noch außerhalb des Denkbaren erschien, war nun eine Tatsache: Ich war im Keller eines Verbrechers eingesperrt, und ich würde zumindest an diesem Tag nicht mehr freikommen. Ein Ruck ging durch meine Welt, die Realität verschob sich um ein kleines Stück. Ich akzeptierte, was passiert war, und anstatt verzweifelt und empört

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