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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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würde. Das, was mir jetzt drohte, schien mir schlimmer.
    Ich weiß nicht mehr, wie lange die Fahrt gedauert hat, bis wir anhielten. Wir waren in einem Föhrenwald, wie es sie außerhalb von Wien zahlreich gibt. Der Täter stellte den Motor ab und telefonierte wieder. Etwas schien schiefgegangen zu sein. »Die kommen nicht, die sind nicht hier!«, schimpfte er vor sich hin. Er wirkte dabei verängstigt, gehetzt. Aber vielleicht war das auch nur ein Trick: Vielleicht wollte er, dass ich mich mit ihm verbünde, gegen diese »anderen«, denen er mich übergeben sollte und die ihn nun hängenließen. Vielleicht hat er sie aber auch nur erfunden, um meine Angst zu vergrößern und mich damit zu lähmen.
    Der Täter stieg aus und befahl mir, mich nicht von der Stelle zu rühren. Ich gehorchte stumm. Hatte Jennifer nicht aus einem solchen Auto fliehen wollen? Wie hatte sie das versucht? Und was hatte sie dabei falsch gemacht? In meinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Wenn er die Tür nicht verriegelt hatte, konnte ich sie vielleicht aufschieben. Aber dann? Zwei Schritte und er wäre bei mir. Ich konnte nicht schnell laufen. Ich hatte auch keine Ahnung, in welchem Wald wir uns befanden und in welche Richtung ich rennen sollte. Und dann waren da noch »die anderen«, die mich holen sollten, die überall sein konnten. Ich sah es lebhaft vor mir, wie sie hinter mir her hetzen, mich packen und zu Boden reißen würden. Und dann sah ich mich als Leiche in diesem Wald, verscharrt unter einer Föhre.
    Ich dachte an meine Eltern. Meine Mutter würde am Nachmittag in den Hort kommen, um mich abzuholen, und die Horttante würde ihr sagen: »Aber Natascha war doch heute gar nicht hier!« Meine Mutter würde verzweifeln, und ich hatte keine Möglichkeit, sie davor zu schützen. Es schnitt mir ins Herz, wenn ich daran dachte, wie sie im Hort steht und ich bin nicht da.
    Was soll schon passieren? Ich war gegangen an diesem Morgen ohne ein Wort des Abschieds, ohne einen Kuss. »Man weiß ja nicht, ob man sich wiedersehen wird.«
     
    * *  *
     
    Die Worte des Täters ließen mich zusammenzucken. »Sie kommen nicht.« Dann stieg er ein, startete den Motor und fuhr wieder los. Diesmal erkannte ich an den Giebeln und Dächern der Häuser, die ich durch den schmalen Streifen der Seitenfenster gerade noch sehen konnte, wohin er den Wagen lenkte: an den Stadtrand zurück und dann auf die Ausfallstraße Richtung Gänserndorf.
    »Wohin fahren wir?«, fragte ich.
    »Nach Straßhof«, sagte der Täter freimütig.
    Als wir Süßenbrunn durchquerten, erfasste mich tiefe Traurigkeit. Wir kamen beim alten Geschäft meiner Mutter vorbei, das sie vor kurzem aufgelassen hatte. Noch drei Wochen vorher wäre sie vormittags hier am Schreibtisch gesessen und hätte die Büroarbeit erledigt. Ich konnte sie vor mir sehen und wollte schreien, aber ich brachte nur ein schwaches Wimmern heraus, als wir an der Gasse vorbeifuhren, die zum Haus meiner Großmutter führte. Hier hatte ich die glücklichsten Momente meiner Kindheit verbracht.
    In einer Garage kam der Wagen zum Stehen. Der Täter befahl mir, am Boden der Ladefläche liegen zu bleiben, und stellte den Motor ab. Dann stieg er aus, holte eine blaue Decke, warf sie über mich und wickelte mich fest darin ein. Ich bekam kaum noch Luft, um mich herum war absolute Dunkelheit. Als er mich wie ein verschnürtes Paket hochhob und aus dem Auto trug, erfasste mich Panik. Ich musste aus dieser Decke heraus. Und ich musste aufs Klo.
    Meine Stimme klang dumpf und fremd unter der Decke, als ich ihn bat, mich abzusetzen und auf die Toilette zu lassen. Er hielt einen Moment inne, dann wickelte er mich aus und führte mich durch einen Vorraum zu einem kleinen Gästeklo. Vom Gang aus konnte ich einen kurzen Blick in die angrenzenden Zimmer werfen. Die Einrichtung wirkte bieder und teuer - für mich eine weitere Bestätigung dafür, dass ich wirklich einem Verbrechen zum Opfer gefallen war: In den Fernsehkrimis, die ich kannte, hatten Kriminelle immer große Häuser mit wertvoller Einrichtung.
    Der Täter blieb vor der Tür stehen und wartete. Ich drehte sofort den Schlüssel herum und atmete auf. Doch der Moment der Erleichterung dauerte nur Sekunden: Der Raum hatte kein Fenster, ich war gefangen. Der einzige Weg nach draußen führte durch die Tür, hinter der ich mich nicht ewig einschließen konnte. Zumal es für ihn ein Leichtes wäre, sie aufzubrechen.
    Als ich nach einer Weile aus der Toilette herauskam, hüllte

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