3096 Tage
gegen die neue Situation anzukämpfen, fügte ich mich. Als Erwachsener weiß man, dass man ein Stück von sich selbst verliert, wenn man Gegebenheiten erdulden muss, die bis zu ihrem Eintreten völlig außerhalb des eigenen Vorstellungsvermögens waren. Der Boden, auf dem die eigene Persönlichkeit steht, bekommt einen Riss. Und doch ist es die einzig richtige Reaktion, sich anzupassen, denn sie sichert das Überleben. Als Kind handelt man intuitiver. Ich war eingeschüchtert, ich wehrte mich nicht, sondern begann, mich einzurichten - vorerst nur für eine Nacht.
Aus heutiger Sicht erscheint es mir beinahe befremdlich, wie meine Panik einem gewissen Pragmatismus wich. Wie schnell ich begriff, dass mein Flehen keinen Sinn haben und wie jedes weitere Wort an diesem fremden Mann abtropfen würde. Wie instinktiv ich ahnte, dass ich die Situation annehmen musste, um diese eine endlose Nacht im Keller zu überstehen.
Als der Täter die Pritsche von der Wand geschraubt hatte, fragte er mich, was ich alles brauchte. Eine absurde Situation, so, als würde ich im Hotel übernachten und hätte mein Necessaire vergessen. »Eine Haarbürste, eine Zahnbürste, Zahnpasta und einen Zahnputzbecher. Ein Joghurtbecher genügt auch.« Ich funktionierte.
Er erklärte mir, dass er nun nach Wien fahren müsse, um mir aus seiner dortigen Wohnung eine Matratze zu holen.
»Ist das dein Haus?«, fragte ich, doch ich erhielt keine Antwort. »Warum kannst du mich nicht in deiner Wohnung in Wien unterbringen?«
Er meinte, das wäre viel zu gefährlich: dünne Wände, aufmerksame Nachbarn, ich könnte schreien. Ich versprach ihm, ruhig zu sein, wenn er mich nur nach Wien brächte. Aber es nützte nichts.
In dem Moment, als er rückwärts den Raum verließ und die Tür zusperrte, geriet meine Überlebensstrategie ins Wanken. Ich hätte alles getan, damit er blieb oder mich mitnahm: alles, nur um nicht allein zu sein.
* * *
Ich hockte auf dem Boden, meine Arme und Beine fühlten sich seltsam taub an, meine Zunge klebte schwer an meinem Gaumen. Meine Gedanken kreisten um die Schule, als suchte ich nach einer zeitlichen Struktur, die mir Halt geben würde, die ich aber längst verloren hatte. Welches Fach wurde wohl gerade unterrichtet? War die große Pause schon vorbei? Wann haben sie bemerkt, dass ich nicht da bin? Und wann werden sie begreifen, dass ich gar nicht mehr komme? Werden sie meine Eltern informieren? Wie werden sie reagieren?
Der Gedanke an meine Eltern trieb mir Tränen in die Augen. Aber ich durfte doch nicht weinen. Ich musste doch stark sein, die Kontrolle behalten. Ein Indianer kennt keinen Schmerz, und außerdem: morgen wäre das alles ganz sicher vorbei. Und dann würde alles wieder gut werden. Meine Eltern würden sich durch den Schock, mich fast verloren zu haben, wieder vertragen und liebevoll mit mir umgehen. Ich sah sie vor mir, gemeinsam am Tisch beim Essen sitzend, wie sie mich stolz und bewundernd befragten, wie ich das alles gemeistert hatte. Ich stellte mir den ersten Tag in der Schule vor. Ob man mich wohl auslachen würde? Oder würde man mich als Wunder feiern, weil ich ja freigekommen war, während alle anderen, denen solche Dinge passieren, als Leichen in einem Teich oder einem Wald endeten. Ich malte mir aus, wie triumphal es wäre - und auch ein bisschen peinlich -, wie sich alle um mich scharen und unermüdlich ausfragen würden: »Hat dich die Polizei befreit?« Würde mich die Polizei denn überhaupt befreien können? Wie sollte sie mich finden? »Wie konntest du denn fliehen?« - »Woher hattest du den Mut zu fliehen?« Hätte ich überhaupt den Mut zu fliehen?
Panik kroch wieder in mir hoch: Ich hatte keine Ahnung, wie ich hier herauskommen sollte. Im Fernsehen »überwältigte« man Täter einfach. Aber wie? Würde ich ihn vielleicht sogar töten müssen? Ich wusste, dass man durch einen Leberstich stirbt, das hatte ich in der Zeitung gelesen. Aber wo war die Leber genau? Würde ich die richtige Stelle finden? Womit sollte ich zustechen? Und war ich dazu überhaupt fähig? Einen Menschen zu töten, ich, ein kleines Mädchen? Ich musste an Gott denken. War es in meiner Situation denn erlaubt, jemanden umzubringen, auch wenn man keine andere Wahl hatte? Du sollst nicht töten. Ich versuchte, mich zu erinnern, ob wir im Religionsunterricht über dieses Gebot gesprochen hatten - und ob es Ausnahmen in der Bibel gab. Mir fiel keine ein.
Ein dumpfes Geräusch riss mich aus meinen Gedanken.
Weitere Kostenlose Bücher