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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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Der Täter war zurück.
    Er hatte eine schmale und etwa acht Zentimeter dünne Schaumstoffmatte mitgebracht, die er auf den Boden legte. Sie sah aus, als ob sie vom Bundesheer stammte, oder von einer Gartenliege. Als ich mich auf sie setzte, wich die Luft sofort aus dem dünnen Gewebe und ich spürte den harten Boden unter mir. Der Täter hatte alles, worum ich ihn gebeten hatte, mitgebracht. Und sogar Kekse. Butterkekse mit einer dicken Schicht Schokolade darauf. Meine Lieblingskekse, die ich eigentlich nicht mehr essen durfte, weil ich zu dick war. Ich verband mit diesen Keksen eine unbändige Sehnsucht und eine Reihe demütigender Momente: Dieser Blick, wenn jemand zu mir sagte: »Das isst du jetzt aber nicht. Du bist ohnehin schon so pummelig.« Die Scham, wenn alle anderen Kinder Zugriffen und meine Hand zurückgehalten wurde. Und das Glücksgefühl, wenn die Schokolade langsam in meinem Mund schmolz.
    Als der Täter die Kekspackung öffnete, begannen meine Hände zu zittern. Ich wollte sie haben, aber vor lauter Nervosität und Angst wurde mein Mund ganz trocken. Ich wusste, ich würde sie nicht hinunterbringen. Er hielt mir die Packung so lange unter die Nase, bis ich einen herausnahm, den ich in kleine Teile zerbröselte. Dabei sprangen ein paar Schokoladenstücke ab, die ich mir in den Mund steckte. Mehr konnte ich nicht essen.
    Nach einer Weile wandte sich der Täter von mir ab und ging zu meiner Schultasche, die auf dem Boden in einer Ecke lag. Als er sie hochhob und sich zum Gehen anschickte, flehte ich ihn an, mir die Tasche zu lassen - das Gefühl, die einzigen persönlichen Sachen in dieser verstörenden Umgebung zu verlieren, zog mir den Boden unter den Füßen weg. Er starrte mich mit einem wirren Gesichtsausdruck an: »Du könntest einen Sender darin versteckt haben und damit um Hilfe rufen«, sagte er. »Du fuhrst mich hinters Licht und gibst dich absichtlich ahnungslos! Du bist viel intelligenter, als zu zugibst!«
    Der unvermittelte Wechsel seiner Stimmung ängstigte mich. Hatte ich etwas falsch gemacht? Und was für einen Sender sollte ich in meiner Tasche haben, in der außer ein paar Büchern und Stiften doch nur meine Pausenbrote waren? Damals wusste ich nichts mit seinem seltsamen Verhalten anzufangen. Heute ist dieser Satz für mich der erste Anhaltspunkt, dass der Täter paranoid und psychisch krank war. Es gab damals keine Sender, die man Kindern mitgeben konnte, um sie zu orten - und selbst heute, wo es diese Möglichkeiten gibt, ist so etwas höchst ungewöhnlich. Für den Täter aber war die Gefahr real, dass ich im Jahr 1998 solche futuristisch anmutenden Kommunikationsmittel in meiner Tasche versteckt hätte. So real, dass er in seinem Wähn Angst davor hatte, ein kleines Kind könne die Welt, die es nur in seinem Kopf gab, zum Einsturz bringen.
    Seine Rolle in dieser Welt wechselte blitzschnell: Im einen Moment schien er mir den Zwangsaufenthalt in seinem Keller so angenehm wie möglich gestalten zu wollen. Im nächsten Moment sah er in mir - dem kleinen Mädchen, das keine Kraft hatte, keine Waffen und schon gar keinen Peilsender - einen Feind, der ihm nach dem Leben trachtete. Ich war einem Verrückten zum Opfer gefallen und zu einer Spielfigur in der kranken Welt in seinem Kopf geworden. Doch damals erkannte ich das nicht. Ich wusste nichts von psychischen Krankheiten, von Zwängen und wahnhaften Störungen, die in den betroffenen Personen eine neue Wirklichkeit entstehen lassen. Ich behandelte ihn wie einen normalen Erwachsenen. Deren Gedanken und Motive hatte ich als Kind ja auch nie durchschaut.
    Mein Bitten und Flehen hatte keinen Erfolg: Der Täter nahm den Rucksack und wandte sich zur Tür. Sie ging nach innen auf und hatte auf der Seite des Verlieses keinen Türdrücker, sondern nur einen kleinen runden Knauf, der so lose in das Holz gesteckt war, dass man ihn herausziehen konnte.
    Als die Tür ins Schloss fiel, begann ich zu weinen. Ich war allein, eingesperrt in einem kahlen Raum irgendwo unter der Erde. Ohne meinen Rucksack, ohne die Brote, die meine Mutter vor wenigen Stunden für mich geschmiert hatte. Ohne die Servietten, in die sie gewickelt waren. Es fühlte sich an, als hätte er einen Teil von mir weggerissen, als hätte er die Verbindung zu meiner Mutter und meinem alten Leben gekappt.
    Ich kauerte mich in einer Ecke auf die Matratze und wimmerte leise vor mich hin. Die holzgetäfelten Wände schienen immer näher zu rücken, die Decke stürzte auf mich zu. Mein

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