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ausgerichtet, die Erwachsenen des engsten Umfelds als feste Größen wahrzunehmen, an denen man sich orientiert und die die Maßstäbe dafür setzen, was richtig und was falsch ist. Kindern wird vorgeschrieben, was sie anziehen und wann sie ins Bett gehen sollen. Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt, und was nicht gewünscht ist, wird unterbunden. Eltern verweigern Kindern ständig etwas, das diese haben wollen. Schon wenn Erwachsene einem Kind die Schokolade wegnehmen oder die paar Euro, die es von Verwandten zum Geburtstag bekommen hat, ist das ein Eingriff - das Kind muss ihn akzeptieren und darauf vertrauen, dass die Eltern schon das Richtige tun. Sonst würde es an der Diskrepanz zwischen dem eigenen Wollen und dem abschlägigen Verhalten derer, die es liebt, scheitern.
Ich war es gewohnt, Anweisungen von Erwachsenen zu befolgen, auch wenn sie mir gegen den Strich gingen. Hätte man mich entscheiden lassen, ich wäre nach der Schule nicht in den Hort gegangen. Zumal in einen, der den Kindern sogar die grundlegendsten körperlichen Funktionen vorschrieb: wann man essen, schlafen und auf die Toilette gehen durfte. Ich wäre auch nicht jeden Tag nach dem Hort in das Geschäft meiner Mutter gekommen, wo ich meine Langeweile mit Eis und Essiggurken bekämpfte.
Sogar Kindern zumindest vorübergehend die Freiheit zu nehmen war nichts, was mir außerhalb des Denkbaren erschien. Auch wenn ich es selbst nicht erlebt hatte: Es war damals in manchen Familien noch eine gängige Erziehungsmethode, Kinder, die nicht gehorchten, in den dunklen Keller zu sperren. Und alte Frauen beschimpften in der Straßenbahn Mütter von lauten Kindern mit dem Satz: »Also wenn das meines wäre, würde ich es einsperren.«
Kinder können sich selbst an die widrigsten Umstände anpassen: Sie sehen auch in prügelnden Eltern noch den liebenden Anteil und in einer schimmligen Hütte ihr Zuhause. Mein neues Zuhause war ein Verlies, meine Bezugsperson der Täter. Meine ganze Welt war aus den Fugen geraten, und er war der einzige Mensch in diesem Alptraum, zu dem meine Welt geworden war. Ich war von ihm so abhängig, wie es sonst nur Säuglinge und Kleinkinder von ihren Eltern sind: Jede Geste der Zuwendung, jeder Bissen Essen, das Licht, die Luft - mein ganzes physisches und psychisches Überleben hing von diesem einen Mann ab, der mich in sein Kellerverlies gesperrt hatte. Und mit seinen Behauptungen, dass meine Eltern nicht auf Lösegeldforderungen antworteten, machte er mich auch emotional von sich abhängig.
Wollte ich in dieser neuen Welt überleben, musste ich mich auf seine Seite stellen. Für jemanden, der nie in einer solchen extremen Situation der Unterdrückung war, mag das schwer verständlich sein: Aber ich bin heute stolz darauf, dass ich diesen Schritt jenem Menschen gegenüber geschafft habe, der mir alles geraubt hat. Denn dieser Schritt hat mir das Leben gerettet. Auch, wenn ich zunehmend mehr Energie aufbringen musste, um diesen »positiven Zugang« zum Täter aufrechtzuerhalten. Er selbst hat sich sukzessive zum Sklaventreiber und Diktator gewandelt. Aber ich bin nie von meinem Bild abgerückt.
Doch noch hielt die Fassade des Wohltäters, der mir das Leben im Verlies so angenehm wie möglich machen wollte. Tatsächlich entwickelte sich eine Art von Alltag. Einige Wochen nach meiner Entführung brachte Priklopil einen Gartentisch, zwei Klappsessel, ein Geschirrtuch, das ich als Tischdecke verwenden durfte, und etwas Geschirr in das Verlies. Wenn der Täter mit dem Essen kam, legte ich das Geschirrtuch auf den Tisch, stellte zwei Gläser hin und legte die Gabeln ordentlich neben die Teller. Nur die Servietten fehlten, dafür war er zu knauserig. Dann setzten wir uns gemeinsam an diesen Klapptisch, aßen das vorgekochte Essen und tranken dazu Fruchtsaft. Er rationierte damals noch nichts, und ich genoss es, so viel zu trinken, wie ich nur wollte. Es stellte sich eine Form von Gemütlichkeit ein, und ich begann, mich auf diese gemeinsamen Mahlzeiten mit dem Täter zu freuen. Sie unterbrachen meine Einsamkeit. Sie wurden mir wichtig.
Diese Situationen waren so hochgradig absurd, dass ich sie in keine Kategorie einzuordnen vermochte, die ich aus meiner bisherigen Realität kannte. Diese kleine, dunkle Welt, die mich plötzlich gefangenhielt, entzog sich in jeder Hinsicht einem normalen Maßstab. Ich musste nach einem anderen suchen. Befand ich mich vielleicht in einem Märchen? An einem Ort, entsprungen der Phantasie der
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