3096 Tage
brachte.
Heute denke ich, der Täter, der extrem schlank war, hatte wohl selbst mit einer Magersucht zu kämpfen, die er nun auch auf mich übertrug. Er war erfüllt von tiefem Misstrauen gegenüber Lebensmitteln jeglicher Art. Er traute der Nahrungsmittelindustrie jederzeit einen kollektiven Mord mit vergiftetem Essen zu. Er verwendete keine Gewürze, weil er gelesen hatte, dass diese zum Teil aus Indien kommen und dort bestrahlt werden. Dazu kam sein Geiz, der im Laufe meiner Gefangenschaft immer krankhafter wurde. Selbst Milch war ihm irgendwann zu teuer.
Meine Essensrationen reduzierten sich dramatisch. Ich bekam in der Früh eine Tasse Tee und zwei Esslöffel Müsli mit einem Glas Milch oder eine Scheibe Guglhupf, die oft so dünn war, dass man die Zeitung durch sie hätte lesen können. Süßigkeiten gab es nur noch nach schlimmen Misshandlungen. Zu Mittag und am Abend bekam ich die Viertelportion eines »Erwachsenentellers«. Wenn der Täter mit dem vorgekochten Essen seiner Mutter oder einer Pizza ins Verlies kam, galt die Faustregel: drei Viertel für ihn, eins für mich. Wenn ich selbst im Verlies kochen musste, listete er mir vorher auf, was ich zu mir nehmen durfte. 200 Gramm gekochtes Tiefkühlgemüse oder ein halbes Fertiggericht. Dazu eine Kiwi und eine Banane pro Tag. Brach ich seine Regeln und aß mehr als vorgesehen, musste ich mit Wutanfällen rechnen.
Er hielt mich dazu an, mich täglich zu wiegen, und kontrollierte akribisch die Notizen über meinen Gewichtsverlauf. »Nimm dir ein Beispiel an mir.«
Ja, nimm dir ein Beispiel an ihm. Ich bin so verfressen. Ich bin viel zu dick. Das dauernde, nagende Hungergefühl blieb.
Noch ließ er mich nicht über lange Phasen ganz ohne Essen im Verlies - das kam erst später. Aber die Folgen der Unterernährung machten sich bald bemerkbar. Hunger beeinträchtigt das Gehirn. Wenn man zu wenig zu essen bekommt, kann man an nichts anderes mehr denken als: Wo bekomme ich den nächsten Bissen her? Wie könnte ich mir ein Stück Brot erschleichen? Wie kann ich ihn so manipulieren, dass er mir von seiner Drei-Viertel-Portion wenigstens einen Bissen mehr abgibt? Ich dachte nur noch an Essen und machte mir gleichzeitig Vorwürfe, dass ich so »verfressen« war.
Ich bat ihn, mir Werbeprospekte von Supermärkten ins Verlies zu bringen, die ich hingebungsvoll durchblätterte, wenn ich allein war. Nach einer Weile entwickelte ich daraus ein Spiel, das ich »Geschmäcker« nannte: Ich stellte mir etwa ein Stück Butter auf der Zunge vor. Kühl und fest, langsam schmelzend, bis der Geschmack die ganze Mundhöhle einnimmt. Dann schaltete ich um auf Grammelknödel: Ich biss in Gedanken hinein, spürte die Knödelmasse zwischen den Zähnen, die Füllung aus knusprigem Speck. Oder Erdbeeren: der süße Saft auf den Lippen, das Gefühl der kleinen Körner am Gaumen, die leichte Säure an den Seiten der Zunge.
Ich konnte dieses Spiel stundenlang spielen und wurde so gut darin, dass es sich beinahe anfühlte wie echtes Essen. Doch meinem Körper brachten die imaginären Kalorien nichts. Immer öfter wurde mir schwindlig, wenn ich beim Arbeiten plötzlich aufstand, oder ich musste mich setzen, weil ich so schwach war, dass meine Beine mich kaum trugen. Mein Magen knurrte andauernd und war manchmal so leer, dass ich mit Krämpfen im Bett lag und versuchte, ihn mit Wasser zu beruhigen.
Ich brauchte lange, bis ich begriff, dass es dem Täter weniger um meine Figur ging, sondern darum, mich durch den Hunger schwach und unterwürfig zu halten. Er wusste genau, was er tat. Sein eigentliches Motiv verbarg er, so gut es ging. Nur manchmal fielen entlarvende Sätze wie: »Du bist schon wieder so aufmüpfig, ich gebe dir wohl zu viel zu essen.« Wer nicht genug zu essen hat, kann kaum noch geradeaus denken. Geschweige denn an Rebellion oder Flucht.
* * *
Eines der Bücher im Regal im Wohnzimmer, auf das der Täter besonderen Wert legte, war »Mein Kampf« von Adolf Hitler. Er sprach oft und mit Bewunderung von Hitler und meinte: »Der hatte recht mit der Judenvergasung.« Sein politisches Idol der Gegenwart war Jörg Haider, der Rechtsaußen-Führer der Freiheitlichen Partei Österreichs. Priklopil zog gerne über Ausländer vom Leder, die er im Slang der Donaustadt »Tschibesen« nannte - ein Wort, das mir von den rassistischen Tiraden der Kunden in den Geschäften meiner Mutter vertraut war. Als am n. September 2001 die Flugzeuge in das World Trade Center flogen, freute
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