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3096 Tage

3096 Tage

Titel: 3096 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natascha Kampusch
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das Knacken in meiner Halswirbelsäule, als er mir einmal mit voller Wucht die Faust gegen den Kopf schlug.
    Aber emotional fühle ich nichts.
    Das einzige Gefühl, das ich nicht abspalten konnte, war die Todesangst, die mich in diesen Augenblicken ergriff. Sie biss sich in meinem Kopf fest, mir wurde schwarz vor Augen, meine Ohren rauschten, das freigesetzte Adrenalin raste durch meine Adern und befahl mir: Flucht! Aber ich konnte nicht. Das Gefängnis, das anfangs nur ein äußeres gewesen war, hielt nun auch mein Inneres gefangen.
    Bald genügten schon erste Anzeichen, dass der Täter jeden Augenblick zuschlagen könnte, dass mein Herz zu rasen begann, die Atmung flach wurde und ich in Schockstarre verfiel. Selbst wenn ich in meinem vergleichsweise sicheren Verlies saß, ergriff mich Todesangst, sobald ich in der Ferne hörte, dass der Täter den Tresor vor dem Durchschlupf aus der Wand schraubte. Das Gefühl der Panik, das der Körper nach einer Erfahrung mit Todesangst gespeichert hat und bei den kleinsten Anzeichen einer ähnlichen Bedrohung abruft, ist nicht kontrollierbar. Es hielt mich mit eisernem Griff fest.
     
    * *  *
     
    Nach etwa zwei Jahren, ich war 14, begann ich mich zu wehren. Zuerst war es eine Art passiver Widerstand. Wenn er mich anbrüllte und ausholte, schlug ich mir so lange selbst ins Gesicht, bis er mich bat aufzuhören. Ich wollte ihn zwingen hinzusehen. Er sollte sehen, wie er mich behandelte, er sollte die Schläge, die ich bislang aushalten musste, selbst aushalten. Kein Eis mehr, keine Gummibärchen.
    Mit 15 schlug ich zum ersten Mal zurück. Er blickte mich erstaunt und etwas ratlos an, als ich ihm in den Bauch boxte. Ich fühlte mich kraftlos, mein Arm bewegte sich viel zu langsam und der Faustschlag fiel zögerlich aus. Aber ich hatte mich gewehrt. Und schlug noch einmal zu. Er packte mich und nahm mich in den Schwitzkasten, bis ich aufhörte.
    Natürlich hatte ich körperlich keine Chance gegen ihn. Er war größer, stärker, fing mich mühelos ab und hielt mich auf Distanz, so dass meine Fausthiebe und Tritte meist ins Leere gingen. Für mich war es trotzdem überlebenswichtig, dass ich mich wehrte. Damit bewies ich mir, dass ich stark war und den Respekt vor mir selbst nicht verloren hatte. Und ihm zeigte ich, dass es Grenzen gab, deren Überschreitung ich nicht länger hinnehmen wollte. Für meine Beziehung zum Täter, zu dem einzigen Menschen in meinem Leben und meinem einzigen Versorger, war das ein entscheidender Moment. Wer weiß, wozu er noch fähig gewesen wäre, wenn ich mich nicht gewehrt hätte.
     
    * *  *
     
    Mit dem Einsetzen meiner Pubertät begann auch der Terror mit dem Essen. Der Täter brachte mir ein- bis zweimal die Woche eine Waage ins Verlies gestellt. Ich wog damals 45 Kilo und war ein rundliches Kind. In den nächsten Jahren wuchs ich - und nahm langsam ab.
    Nach einer Phase der relativen Freiheit beim »Bestellen« meines Essens hatte er schon im ersten Jahr allmählich die Kontrolle übernommen und mir befohlen, mir mein Essen gut einzuteilen. Neben Fernsehverbot war Essensentzug eine seiner effektivsten Strategien gewesen, mich auf Spur zu halten. Doch als ich zwölf wurde und körperlich einen Schub machte, verknüpfte er die Rationierung der Essensmenge mit Beleidigungen und Vorwürfen.
    »Sieh dich doch mal an. Du bist dick und hässlich.«
    »Du bist so verfressen, du isst mir noch die Haare vom Kopf.«
    »Wer nicht arbeitet, braucht auch nicht zu essen.«
    Seine Worte trafen mich wie Pfeile. Ich war schon vor der Gefangenschaft kreuzunglücklich mit meiner Figur gewesen, die mir das größte Hindernis auf dem Weg zu einer sorgenfreien Kindheit schien. Das Bewusstsein, dick zu sein, füllte mich mit nagendem, zerstörerischem Selbsthass. Der Täter wusste genau, welche Knöpfe er drücken musste, um mein Selbstvertrauen zu treffen. Und er drückte gnadenlos zu.
    Gleichzeitig ging er dabei so geschickt vor, dass ich ihm in den ersten Wochen und Monaten beinahe dankbar war für seine Kontrolle. Er half mir schließlich dabei, eines meiner größten Ziele zu erreichen: schlank zu sein. »Nimm dir einfach ein Beispiel an mir, ich brauche fast kein Essen«, erklärte er mir immer wieder. »Du musst das wie eine Kur begreifen.« Und tatsächlich konnte ich beinahe dabei zusehen, wie ich Fett verlor und schlank und sehnig wurde. Bis die angeblich wohlmeinende Essenskontrolle in einen Terror überging, der mich mit 16 an den Rand des Hungertodes

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