313 - Der verlorene Pfad
Norden Englands zusammengetragene Relikte der Technos: Datenkristalle, Maschinen, Bücher – unermessliche Schätze aus vergangener Zeit. Und es war Rulfans erklärtes Ziel, diesen Hort zu hüten und zu vergrößern.
Er wandte sich vom Thronsaal ab und wies auf die Treppe in der Eingangshalle. »Komm mit aufs Dach, ich will dir etwas zeigen«, forderte er seinen Vater auf. »Das neue Luftschiff ist fertig! Es ankert ein Stück entfernt, aber von den Zinnen aus kannst du es gut sehen.«
»Wolltest du nicht sesshaft werden?«, fragte Sir Leonard augenzwinkernd. »Was sagt denn Myrial dazu?«
Rulfan winkte ab. »Es ist nur ein kleines Modell, ein Zweisitzer. Ich hoffe ja immer noch, dass ich Myrial für Rundflüge über unsere Ländereien begeistern kann. Leider hat sie nicht viel Vertrauen in die Luftfahrt.«
Eisiger Wind schlug den Männern entgegen, als sie auf die Aussichtsplattform des Burgturms traten. Hinter ihnen knallte die Tür zu. Die Erschütterung brachte ein Heer von Eiszapfen über ihren Köpfen zum Klirren.
»Vorsicht, Vater!«, warnte Rulfan. »Es ist ziemlich glatt hier oben.«
»Ah! Wenn ich nicht erschlagen werde, rutsche ich aus und breche mir das Genick.« Sir Leonard grinste. »Wehe, dein Luftschiff ist das Risiko nicht wert! Wo hast du es denn versteckt?«
»Da drüben!« Rulfan wies über die Zinnen nach Osten. Zwei Speerwürfe von der Burg entfernt ragte eine Ruine auf, die wie geschaffen war als Hangar für ein Luftschiff. Möglicherweise hatte es sich einmal um eine Kapelle gehandelt. Ihre hohen Mauern waren noch intakt und schützten den Flieger vor dem Wind. Das Dach fehlte jedoch komplett. Man konnte senkrecht starten, ohne irgendwo anzustoßen.
Und Rulfan hatte recht: Von hier oben war das Luftschiff gut zu erkennen. Ein schnittiger, länglicher Ballon mit silberner Außenhaut wiegte sich sanft in einer Holzkonstruktion. Die Gondel war nicht zu sehen.
»Sieht aus wie ein Fluchtfahrzeug für Notfälle«, stellte Sir Leonard fest. Einen Arm auf die Brüstung gelegt, wandte er sich Rulfan zu und sein Lächeln erlosch. »Hör mal, Sohn: Ich mache mir Sorgen um dich. Du siehst nicht glücklich aus! Bist du wirklich sicher, dass du heiraten willst?«
Rulfan trat neben ihn an die Brüstung. Er schien bewusst den Blickkontakt mit seinem Vater zu vermeiden und schaute stattdessen über die Burgwiesen hinweg zum fernen Waldrand.
»Myrial hat es sich so gewünscht«, sagte er ausweichend.
»Das beantwortet meine Frage nicht!« Sir Leonard folgte Rulfans Blick und sah flüchtig zu den verschneiten Schonungen. Dann wandte er sich wieder dem Albino zu. »Nun?«
Rulfan seufzte. »Na ja – es war, wie ich sagte, Myrials Idee. Aber sie hat ja recht! Wir sind ein Paar, wir leben zusammen, und sie ist die Mutter meines Sohnes. Und wenn wir noch ein weiteres Kind bekommen, wäre es schon besser, es in geordneten Verhältnissen aufzuziehen.«
»Myrial ist schwanger?«, fragte Sir Leonard erstaunt.
»Nein!« Rulfans Hände flogen abwehrend hoch. »Nein! Das war nur eine Überlegung.«
»Und keine schlechte! Mir jedenfalls würde ein zweiter Enkel gefallen!«
»Du wohnst ja auch nicht hier.« Rulfan grinste flüchtig. Er schob etwas Schnee von der Brüstung zusammen, formte einen Ball und schleuderte ihn der aufgehenden Sonne entgegen. »Ein paar Nächte ohne Schlaf, weil das Baby pausenlos schreit und deine Frau dir beim Aufstehen ständig die Decke wegreißt, und du würdest deinen Enkel an den nächstbesten fahrenden Händler verschenken! Außerdem soll es ein Mädchen werden, das hat Myrial bereits beschlossen. Canduly Kay.«
»Schöner Name!« Sir Leonard nickte. Dann fragte er übergangslos: »Liebst du sie?«
»Was?« Rulfan fuhr herum, eine Falte zwischen den fahlen Augenbrauen.
Sein Vater hob die Schultern. »Simple Frage! Liebst du Myrial?«
»Äh – ja, sicher.«
»Wenn sie in Gefahr wäre, würdest du versuchen, sie zu retten, auch wenn es dich das Leben kosten könnte?«
»Natürlich! Zweifelst du etwa an mir?« Rulfans Stirnrunzeln vertiefte sich. Seine roten Augen funkelten. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so von mir denkst! Ich würde Myrial niemals im Stich lassen!«
»Niemals?«
»Nie! Komm, wir gehen wieder ins Haus! Es ist zu kalt hier oben; dir friert offenbar das Hirn ein.« Rulfan stieß sich von der Brüstung ab und stapfte auf die Turmtür zu. Man sah ihm an, wie empört er war.
Doch sein Vater folgte ihm nicht. »Eine letzte Frage noch, Sohn. –
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