314 - Exodus
Wollte Vogler etwa mit dem Shuttle starten?
Die Angst in ihr wuchs von Minute zu Minute. Vogler musste den Verstand verloren haben, sonst hätte er Xij nicht angegriffen. Die Ankunft des Streiters machte ihn verrückt. Was würde er als Nächstes tun? Mit dem Shuttle in den Flächenräumer fliegen?
»Bitte«, flüsterte sie. »Bitte, komm zur Vernunft.« Ihr Atem wehte gut sichtbar davon. Sie erreichte die Röhre und ließ sich nach dem Auslösen des Mechanismus durch die Kontraktionen nach oben transportieren. Zehn Meter höher suchte sie erneut nach Spuren. Auch auf der Ebene ging kaum Wind, der Himmel senkte sich schwer und anthrazitfarben. Dichte Wolkenfelder ballten sich zusammen. Es war die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm.
»Vogler!« Fieberhaft suchte sie nach seinen Fußabdrücken im Schnee. Da! Die Spuren führten vom Shuttle fort, hin zum Eisfeld. Wohin bei Phobos und Deimos wollte er? Ihr Hals lag in einer Schlinge aus Furcht, die sich immer weiter zuzog.
Auch mit Kleidung konnte ein Mensch in dieser weißen Einöde erfrieren, besonders wenn ein Sturm ihm jede Orientierung raubte. Dass Vogler als Waldmensch niedrige Temperaturen besser ertrug als andere, beruhigte sie nicht. Die Windgeschwindigkeiten in dieser Region konnten horrend werden und einen Menschen einem Blatt gleich herumwehen. In Gedanken sah sie Vogler in eine der vielen Eisspalten stürzen, die die weite Fläche wie ein Netz aus Adern durchzogen.
»Vogler!« Wo war er nur? Wie weit vor ihr konnte er sein? Wenn sie ihn nicht bald einholte und zurückbrachte, geriet auch sie in Gefahr. Schneewolken dräuten sich über ihr. Es würde jeden Moment losgehen.
Ein scharfer Windstoß fauchte ihr ins Gesicht. Sie lief schneller, rannte, glitt aus und stürzte auf einer Eisplatte. Ihre Ellbogen schlugen schmerzhaft auf die Fläche. Ohne einen Klagelaut stand sie wieder auf und eilte weiter. Sie musste ihn finden, bevor der Sturm kam.
Der Gedanke wurde zum Mantra, das sie die Kälte vergessen ließ. Clarice legte hundert Meter zurück, zweihundert, dreihundert. Dann – endlich! – entdeckte sie ihn. Ein dunkler, verlorener Schatten an einer Eisspalte, kaum fünfzig Meter vor ihr. »Vogler!«
Er rührte sich nicht, reagierte nicht auf ihren Ruf. Wie ein Teil der Landschaft stand er hoch aufgerichtet am Rand der Spalte. Ganz nah am Abgrund. Nur ein Schritt trennte ihn vom Tod.
Du wirst doch nicht... Das Entsetzen machte sie einen Moment sprachlos. Sie wurde langsamer, näherte sich ihm vorsichtig. Er durfte nicht springen. Das musste sie verhindern, um jeden Preis. Sie fühlte sich in ihn ein, versuchte zu verstehen, welcher Wahnsinn ihn gepackt hatte. Auch sie spürte die Wirkung des Streiters. Sie hatte es bisher keinem gegenüber zugegeben, aber ihre Albträume waren inzwischen so schlimm, dass sie dagegen starke Medikamente nahm.
Jeder Schritt wurde schwerer, als ob ein großes Gewicht sie niederdrücken würde. Wie sollte sie die richtigen Worte finden, um Vogler zurückzuführen aus dem geistigen Abgrund, der vielleicht noch tiefer war als die Spalte im Eis?
»Vogler, bitte«, sagte sie leise, um ihn nicht zu erschrecken. »Dreh dich zu mir um.« Sie erreichte ihn, stand ganz dicht bei ihm, nur zwei Schritte entfernt.
Er wandte ihr weiter den Rücken zu, obwohl er sie längst gehört haben musste. »Clarice. Windtänzer steht da unten. Er singt das Lied der Sterne. Kannst du ihn hören?«
Clarice schluckte. Natürlich hörte sie nichts. Sollte sie die Wahrheit sagen oder lügen? Sie erinnerte sich an die schwere Zeit, nachdem ihr Zwillingsbruder Roy gestorben war. Es hatte Augenblicke gegeben, da wollte sie sterben, so einsam fühlte sie sich ohne ihn. Vogler hatte sie im Laufe der Jahre über den Verlust hinweggetröstet. Auch wenn niemand Roy ersetzten konnte, war es doch Vogler gewesen, der ihr Halt gab. Nun würde sie ihm Halt geben, selbst wenn sie ihn dazu anlügen musste. Sie spürte, wie sehr er sich nach einem Menschen sehnte, der ihn verstand. »Ja. Ich höre ihn. Er singt wunderschön.«
»Er ruft mich zu sich.« Vogler breitete die Arme aus. »Er braucht mich.«
»Nein!« Clarice trat noch einen Schritt vor und verharrte angstvoll. »Nein, er will, dass du lebst. Er ist der Oberste Baumsprecher, und er will nur das Beste für sein Volk. Das hast du mir selbst gesagt, Vogler. Erinnerst du dich?«
Vogler ließ die Arme sinken und drehte sich langsam zu ihr um. Er sah furchtbar aus. Die Schatten unter seinen Augen
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