314 - Exodus
bedeckten das halbe Gesicht. Die Pigmente zeichneten sich schmutzig grau auf grünlicher Haut ab. Das Kinn und die Stirn wirkten wie geschwollen und leicht verschoben. Seine Augen blickten sie nachdenklich an. Auch sie erschienen Clarice nicht mehr wie die Augen, die sie kannte. Alles an ihm war ihr so fremd, dass ihr schauderte.
Er zog eine Grimasse, die vielleicht ein Lächeln sein sollte. »Du bist wunderschön, Clarice, weißt du das? Wunderschön. Auch wenn du kein Teil des Waldes bist.«
Sie schluckte. »Vogler, bitte. Komm mit mir zurück zum Flächenräumer. Ich brauche dich.«
»Windtänzer will es nicht.«
Clarice überlegte, die Waffe zu ziehen und ihn zu betäuben, aber er stand so nah am Abgrund, dass er vielleicht hineinfallen würde. Ganz davon abgesehen konnte er sehen, was sie tat, und sie hatte Angst, wie er darauf reagierte. Vielleicht würde er springen, wenn sie den Blitzstab zog.
Irgendwie musste sie ihn von der Spalte fortlocken und ablenken. »Dann bleibst du hier? Bei Windtänzer?« Sie blickte in die Tiefe, zwölf Meter hinab. Natürlich konnte sie den Obersten Baumsprecher dort nicht stehen sehen. Die Spalte war so leer und verlassen wie alles, was sie umgab.
»Ja. Ich bleibe und diene meinem Volk.«
»Dann... dann lass uns Abschied nehmen. Bitte.« Sie trat einen Schritt zurück, damit er ihr folgen musste.
Vogler kam auf sie zu, die Arme nach ihr ausgestreckt. Clarice ließ sich zu ihm ziehen. Ihre Hand tastete unauffällig nach dem Blitzstab, doch ihre Finger waren von der Kälte so gefühllos, dass sie ihn nicht sofort aus der Halterung lösen konnte.
Voglers Nähe schmerzte. Konnte sie wirklich in diesem Augenblick auf ihn schießen? Würde sie damit nicht den Abgrund zwischen ihnen unüberwindlich machen? Zum ersten Mal seit Jahren spürte sie Tränen in ihren Augen. Sie hatte eine harte Ausbildung hinter sich, und doch schaffte sie es nicht, ihre Gefühle zurückzuhalten. Der Himmel über ihr schürte ihre Zweifel. Es war, als würden tausend Augen aus den Wolken auf sie herbstarren und in ihr eine Verräterin sehen. Sie startete einen letzten Versuch, Vogler ohne Gewalt zurückzubringen.
»Bitte, Vogler.« Ein Schluchzen quälte sich durch ihre Kehle. »Komm mit mir. Komm mit zurück.« Sie barg ihr Gesicht an seiner Schulter. Ihre Hand nestelte am Blitzstab, bekam ihn frei und brachte ihn sicherheitshalber in Position.
Er streichelte über ihr Haar. »Clarice, ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt. Aber Windtänzer steht über uns allen. Sein Wille ist Gesetz.« Seine Lippen küssten ihre kalte Stirn. Sie glühten. »Es tut mir leid, Clarice. Er ruft. Er darf nicht allein sein in den Schatten. Nicht allein. Und alle Städter müssen sterben.«
»Was?!« Clarice riss die Augen auf, als Vogler sie ruckartig herumstieß. Sie löste die Waffe aus – zu spät. Der Strahl verfehlte ihn um Zentimeter. Fassungslos starrte sie ihn an, dann verlor sie den Boden unter den Füßen.
Sie schrie. Panik umklammerte sie. Verzweifelt suchte sie mit den Armen nach einem Halt, den es nicht gab. Der Blitzstab entglitt ihren Fingern. Alles ging rasend schnell, zu schnell für das Entsetzen, das sie packte. Über ihr wurde Voglers Gesicht immer kleiner. Es war das Letzte, was sie sah. Dann kam der Aufprall und mit ihm die Dunkelheit.
***
Matt erreichte die manuell geöffnete Schleuse und entsperrte sie, damit Takeo wieder auf sie zugreifen konnte. Er sah sich draußen um, dabei erkannte er zwei Paar Fußspuren, die zur Bionetikröhre führten. Eilig wollte er loslaufen, als er hinter sich einen Alarmton und Takeos Stimme über die Deckenmembran hörte: »Achtung! Es gibt eine neuerliche Sabotage! Jemand muss sich darum kümmern! Sofort!«
Matt fluchte und fuhr herum. Er eilte an ein Funkrelais am Innen-Schott. »Wo?«, fragte er in das bionetische Mikrofon.
»Sektor eins. An den Energiespeicherwaben!«
»Die sind doch ganz in deiner Nähe! Kannst du nicht selbst...?«
»Ich führe gerade die Konfigurierung des Splitters durch! Wenn ich mich jetzt abkopple, riskieren wir den Ausfall des Bauteils!«
Matt verschwendete keine weitere Zeit mit Worten und rannte zurück in die Anlage. Die neuerliche Beschädigung hatte oberste Priorität, denn ohne Schussenergie gab es keine Hoffnung gegen den Streiter mehr. Er konnte nur hoffen, dass Clarice allein mit Vogler fertig wurde.
Auf halber Strecke zu Sektor eins begegnete ihm Steintrieb in langer Unterwäsche. »Was is los?«, fragte er
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