317 - Die letzten Stunden von Sodom
Spalten im Boden an manchen Stellen der Stadt übel riechende Gase aus, die sich entzünden lassen. Die Felshöhlen vor der Stadt sind voll davon und schon manchen Reisenden zum Verhängnis geworden, der in ihnen übernachten wollte. Es ist also nicht ratsam, Feuer zu benutzen.«
Maddrax sagte etwas, das wie »Schitt« klang. Xij übersetzte seine Worte mit »Das ist schlecht« und fuhr fort: »Da Maddrax und Grao jedoch eure Sprache nicht sprechen, würden sie viel Zeit dabei verlieren, sich verständlich zu machen. Erlaubt also, dass ich ihnen weiterhin als Übersetzerin zur Seite stehe.«
O nein, dachte Melchior. Eins hatte ihm schon gestern missfallen: dass der gutaussehende Maddrax sich immer in Xijs Nähe aufhielt und wohl selbst ein Auge auf ihn geworfen hatte. Ihn beruhigte nur, dass Xij sich offenbar für ihn, Melchior, entschieden hatte. Wie anders wäre die stürmische Liebesnacht zu erklären, die sie miteinander verbracht hatten – auch wenn Melchior selbst sich dank des Weines aus dem Lavendelparadies nicht mehr daran erinnern konnte. Eigentlich hatte er vorgehabt, sie heute bei vollem Bewusstsein zu wiederholen...
Er stieß einen Seufzer aus und nickte. »Einverstanden. Ich hoffe aber darauf, dass du dich nach Sonnenuntergang, wenn die beiden deine Dienste nicht mehr benötigen, bei mir einfinden wirst.«
Nachdem Xij ihm dies zugesichert hatte, ging er hinaus, um mit seinen Leuten zu reden und sich anschließend den Intrigen zu widmen, die wichtig waren, wenn man einen Staatsstreich plante.
***
Enoch führte Matt und seine Gefährten durch schattige Gassen und über gewundene Wege zur östlichen Stadtmauer.
Von dort aus, sagte er, hatte man einen schönen Ausblick auf den »Asphaltsee«. Überhaupt erwies sich der Gardist als sehr gesprächig – was Xij, Matt und Grao zupasskam, denn sie wollten mehr über die hiesigen Verhältnisse erfahren.
Enoch war der festen Meinung, dass Sodom mit seinen fast fünftausend Einwohnern »die größte Stadt der Welt« sei. König Orlok, so berichtete er, war ein angenehmer Zeitgenosse, denn er überließ die Politik seinen Beratern und gab sich selbst ausschließlich dem Vergnügen hin: Fast jede Nacht feierte er mit Freunden, Verwandten und den schönsten Huren. Es gab keine sodomitische Staatsreligion: Jeder durfte jeden Gott anbeten. Wichtig war, dass man überhaupt einen Gott anbetete. Wer die Existenz von Göttern leugnete, wurde irgendwann von Kroak, dem echsenhaften Dämon aus der Unterwelt, dafür gerichtet. Die ihn verkörpernden Statuen hatten Matts Interesse schon am Tor erregt, denn ihre Ähnlichkeit mit Grao’sil’aana war frappierend. Dass sie Daa’muren darstellten, war indes unmöglich, denn die waren erst im Jahr 2012 mit dem Wandler auf die Erde gelangt und hatten ein halbes Jahrtausend später ihre gestaltwandlerischen Körper bezogen.
Xij übersetzte fleißig Enochs Worte und flocht hin und wieder Wissenswertes ein, das sie aus ihrer eigenen Vergangenheit wusste: zum Beispiel, dass der Asphaltsee später einmal »Totes Meer« heißen würde.
Hin und wieder wichen sie edlen Damen aus, die sich und ihre Sänften von Sklaven durch die Gassen tragen ließen. Hin und wieder sprengten Reiter auf weißen Rossen vorbei, die kaum Rücksicht auf das Volk nahmen. Niemand wagte es, sie auch nur zu verwünschen. Nur Grao, der von einem dieser Herren beinahe über den Haufen geritten worden wäre, tat einmal seinen Unmut kund und wurde prompt von Enoch zur Räson gerufen.
Fracht wurde in Sodom oft auf Kamelrücken transportiert. Dies war vermutlich auch der Grund für die Existenz der vielen tausend Kameldunghaufen, denen man allenthalten ausweichen musste.
Je näher sie der Stadtmauer kamen, umso unscheinbarer wurden die Gebäude und umso mehr Kinder und Viehzeug trieben sich in den Gassen herum. Die Auswirkungen auf die Hygiene waren unübersehbar: Wie nicht anders zu erwarten, verrichteten hier nicht nur Hühner, Schweine, Kühe, Ziegen und Hunde ihre Notdurft dort, wo sie gerade standen; auch die Menschen fanden nichts dabei, ans Fenster zu treten und den Inhalt ihres Nachttopfs ins Freie zu entleeren.
Schließlich umrundete Enoch die letzte Ecke, und sie fanden sie sich an der Stadtmauer wieder, an einem der hohen Türme, die sie überragten.
»Hier wohnt der Gelehrte.« Es ging in den Turm hinein, der rund wie eine Röhre war. Licht fiel durch schmale Fensterchen herein. An der Innenwand führte eine metallene Wendeltreppe nach oben
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