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317 - Die letzten Stunden von Sodom

317 - Die letzten Stunden von Sodom

Titel: 317 - Die letzten Stunden von Sodom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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hatte. »Eine Kugel soll die Erde sein?«, krähte Orlok und sah sich amüsiert um, während die Umstehenden pflichtschuldig in sein Gelächter einstimmten. »Lasst das den Gott der Unterwelt nicht hören! Ihr Engelländer seid ein verrücktes Volk!«
    Damit schien seine Befürchtung ausgeräumt, denn er winkte seinem Mundschenk, einer androgynen Gestalt namens Ismael. Dessen Haar war schwarz und schulterlang und seine Stimme so weibisch, dass Xij ihn argwöhnisch musterte.
    Ismael hingegen beachtete Xij überhaupt nicht. Er schien sich ziemlich sicher zu sein, dass er schöner war als sie.
    »Wein für unsere Helden«, befahl Orlok. Und an Matt gewandt: »Esst, trinkt, feiert mit uns! Doch um Mitternacht verschwindet in eure Räume, denn Gardisten sind Orgien nicht gestattet.«
    Nachdem Xij übersetzt hatte, atmete Matt auf und verneigte sich zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Vor allem war er froh, keine weiteren Fragen über die Druiden beantworten zu müssen. Ismael führte sie an freie Plätze, wo sie tranken und sich den Bauch mit allerlei Speisen vollschlugen. Was genau auf den silbernen Tellern lag, wollte Matt gar nicht wissen. Hauptsache, es war gut durchgebraten. Beim Wein hielt er sich zurück, denn er dachte an die vergangene Nacht, die ihm nicht gut bekommen war.
    Musikanten spielten auf. Matt nutzte die Gelegenheit, um die Gäste zu begutachten. Es war faszinierend, eine frühzeitliche Feier mit eigenen Augen zu sehen anstelle einer filmischen Rekonstruktion im History Channel.
    Dann beobachtete er, wie die Seherin, die ihm vorhin schon aufgefallen war, Kurs auf den König nahm. Ein reichlich schwankender Kurs, denn sie hatte wohl schon den einen oder anderen Becher Wein geleert. Böses ahnend, machte er Xij auf die Dame aufmerksam, und seine Begleiterin rückte näher an den Thron heran und spitzte die Ohren.
    Die Frau in dem nachthemdähnlichen Gewand, die Orphea ihm als Seherin vorgestellt hatte, kam bei Orlok und dessen Schwester an und verbeugte sich tief. Fast verlor sie dabei das Gleichgewicht, und eine Leibwache sprang hinzu und hielt sie fest.
    »Auf ein Wort, mein König...«, lallte die Frau – und deutete auf Grao. Matt überlief es kalt. Schon vorhin hatte er geahnt, dass sie den Daa’muren nicht zufällig fixiert hatte. Ahnte sie, wer er wirklich war? Er warf Grao einen warnenden Blick zu und beugte sich zu Xij hinüber, um zu hören, was sie übersetzte.
    »Sprich, Seherin«, sagte Orlok gnädig. »Lass uns an deiner Weisheit teilhaben.«
    »Ich spüre die Ausstrahlung einer bösen Macht!«, kreischte die Seherin mit schriller Stimme und machte Anstalten, die Tafel zu besteigen. Der Leibwächter konnte sie gerade noch davon abhalten. »Sie ist schon im Palast, die böse, verräterische Macht«, rief die Seherin in die sich nun ausbreitende Stille hinein, »und sie hat es auf dich abgesehen, mein König! Ich spüre ihre Abscheulichkeit genau...« Ihr Blick wanderte über den Tisch und blieb wiederum an Grao’sil’aana hängen. Matt spannte sich an, um aufzuspringen. Wenn sie das Überraschungsmoment zur Flucht nutzen wollten...
    Unruhe entstand unter den Gästen. Noch ahnte keiner, dass Grao das Ziel der Hassrede war; im Gegenteil schienen viele der Anwesenden die Beschuldigung auf sich selbst zu beziehen. Matt fragte sich unwillkürlich, wie viele Verschwörer oder Neider es im Raum geben mochte.
    Im nächsten Moment – und glücklicherweise, bevor die Seherin konkret werden konnte – rief eine andere laute Stimme: »Ammenmärchen! Jagt die Wichtigtuerin, die uns die Freude am Fest verderben will, hinaus! Seht ihr nicht, dass sie vollkommen betrunken ist? Vermutlich spürt sie schon die bösen Geister in sich, die am Morgen nach dem übermäßigen Weingenuss über sie kommen werden!«
    Die angespannte Stimmung explodierte förmlich in Gelächter. Melchior – denn er war es, dessen Stimme erklungen war – hatte genau die richtigen Worte gewählt, um die Lage zu entspannen. Er gab Ismael und den Leibwächtern ein Zeichen.
    Während der Mundschenk die Seherin von hinten packte und ihr den Mund zuhielt, nahm die Wache ihre zappelnden Beine. Im Nu tauchten sie mit ihrer Fracht – Ismael vorneweg – im dunkleren Teil der Terrasse unter.
    Matt ahnte, dass der im rechten Augenblick aufgetauchte Hauptmann nicht ohne Eigennutz eingegriffen hatte. Vermutlich befürchtete er, dass die Seherin seine Mordpläne, den eigenen Bruder betreffend, aufdecken wollte. Vermutlich würde

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