319 - Paris - verbotene Stadt
ihre Einheiten die Seine überquerten, hatte sie erneut versucht, Dylan zu erreichen. Wieder vergeblich. Etwas war geschehen, sie spürte es doch. Hatte er sich tatsächlich gegen die Beamten gewehrt, die seinen Vater zum Sterben abholen wollten? Einerseits erfüllte sie der Gedanke mit Stolz auf Dylan, andererseits schlug ihr das Gewissen: Sie selbst hatte ihm zugeredet, Gewalt anzuwenden.
Wie auch immer: Nun musste sie in den Kampf ziehen, ohne dem Geliebten noch einmal »Adieu« gesagt zu haben.
»Für etliche von uns wird das der letzte Kampf sein«, sagte Jeanne. »Falls es mich trifft, wählt Rudolpho zum Kommandeur.«
Die Männer und Frauen nickten nur. Es war nicht das erste Mal, das Jeanne über ihre Nachfolge sprach.
»Falls es auch Rudy erwischt, sorgst du, Nikolas, dafür, dass seine Asche nach Triest gebracht und neben dem Grab seiner Mutter bestattet wird. Das musste ich ihm versprechen.« Nikolas nickte. Flüsternd fügte sie hinzu: »Und du, Laurent, musst mir etwas versprechen.« Fragend sah der Schwarze mit der blau-roten Kriegsbemalung sie an. »Sollte ich umkommen, nimm meinen Mobilport an dich und versuche einen Dylan McNamara aus New York City von meinem Tod zu benachrichtigen.«
***
»Töten Sie ihn«, sagte die verhasste Männerstimme erneut. »Ich warne Sie, Frau Generalsekretär – ich weiß genug über diesen Mann: Er ist hochgefährlich. Töten Sie ihn nicht irgendwann, töten Sie ihn jetzt.«
»Ich danke Ihnen für Ihre Einschätzung, Silvester«, hörte Matt die junge Chinesin sagen. Ihre Stimme klang kühl, ihr Lächeln wirkte bemüht, ihre grünen Augen glitzerten wie Eiskristalle. »Doch Töten ist nichts für Hitzköpfe, wissen Sie? Töten will sorgfältig bedacht werden, Silvester.«
Der Klang dieser Frauenstimme ließ Matt Drax frösteln. Sie sprach chinesisch, dessen war er sicher. Warum also verstand er jedes Wort?
»Ich muss gestehen, dass ich Sie bewundere, Mr. Drax.« Lächelnd wandte sich die junge Chinesin an ihn und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie Sie Ihre Gefährten aus dem Zentralkrematorium befreit, wie Sie den Gleiter der Geheimpolizei angelockt und wie Sie einen Weg an Bord unseres Ferngleiters gefunden haben – großartig!«
Er mochte sie nicht, das war Matt sofort klar; und ohne Zweifel war sie hundert Mal gefährlicher als Smythe. Der verdrehte die Augen und wandte sich resigniert ab.
»Natürlich wären vor allem ihre letzten beiden Coups ohne unser Zutun nicht möglich gewesen.« Ihr Lächeln wirkte ein wenig ehrlicher plötzlich. »Doch das ändert nichts daran: Ich verstehe immer besser, warum die subversiven Kräfte dieses Planeten Sie bewundern. Diese Rebellen in Berlin oder Paris, und die Kämpfer der Liberty Party Army , wie diese Lola Rumsfield. Wirklich beeindruckend.«
Matt hätte ihr gern Paroli gegeben, doch seine Zunge und sein Mund fühlten sich an wie ein zerknüllter Staublappen.
»Verstehen Sie mich nicht falsch, Mr. Drax«, fuhr sie fort. »Es wäre gefährlich für Sie, Ihre Lage zu unterschätzen, geradezu fatal.«
Sie wandte sich wieder um und blickte zu einer transparenten Wand. Matt begriff nicht, was sie von ihm wollte. Tausend Gedanken schwirrten ihm durchs Hirn, und er hatte größte Mühe, sie sinnvoll zu ordnen. Er wusste nur, dass Roots und die Kapuzenmänner falsch gespielt hatten. Und er verfluchte sich selbst, weil er in ihre Falle gegangen war.
»Sicher – Sie sind ohne Zweifel ein kluger Mann, Mr. Drax«, sagte die Chinesin, die ihm jetzt ganz den Rücken zuwandte und die Glasfront beobachtete. »Doch ich dachte, es könnte nicht schaden, Ihnen die Gefährlichkeit Ihrer Lage ein wenig zu veranschaulichen.«
Matt kniff die Lider zusammen und blinzelte ins Licht. Blickte er wirklich auf eine gläserne Wand und nicht vielmehr auf eine Art Monitor? Sicher war er sich nicht; sicher war er nur, dass er die Frau hinter der Glasfront – oder auf dem Monitor? – schon gesehen hatte. Lola Rumsfield, Commander der Liberty Party Army . Ihr Gesicht war blutig; man hatte sie misshandelt.
Zwei Männer in silbergrauen Ganzkörperanzügen schleppten sie zu einer offenen Luke. Jenseits davon sah Matt viel Himmel, wenige Wolken und tief darunter das Meer. Ein Drahtseil und Karabinerhaken verbanden die Gurte der beiden Männer mit einer Stange, die oberhalb des Ganges verlief. Lola wurde von keinem Drahtseil gehalten, nur von den groben Händen der beiden Männer. Sie schrie.
Tonloses Gemurmel erhob sich nicht weit
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