32 - Der Blaurote Methusalem
Ihnen gehen soll. Sprechen Sie schnell! Kennen Sie meinen Vater? Haben Sie von ihm gehört, wohl gar ihn gesehen? Lebt er noch? Wo befindet er sich, und warum hat er nicht nach seinen Kindern geforscht?“
Er hatte die beiden Hände des Methusalem ergriffen und seine Fragen mit großer Hast ausgesprochen. Degenfeld antwortete, indem seine Stimme vor Rührung zitterte: „Er lebt noch, fern von seinem Vaterland, in welches er nicht zurückkehren darf, weil man ihn da für einen Empörer hält. Mich aber hat er ausgesandt, um nach seinem Weib und seinen Kindern zu forschen.“
„Und wo, wo lebt er? O sagen Sie es mir!“
„In Deutschland, welches meine Heimat ist.“
„Herr, Sie sind wie ein Stern, der mir in dunkler Nacht erscheint. Sie geben mir meine Ehre zurück. Ich darf sagen, daß ich einen Vater habe. Ich bin nicht mehr ein Mensch, welcher sich schämen muß, wenn man ihn nach seinen Ahnen fragt. Mein Vater lebt. Er kann nicht kommen, aber ich werde zu ihm gehen. Ich werde China verlassen und allen Ehren, die mich erwarten, entsagen, um bei dem zu sein, dem ich mein Leben, mein Dasein verdanke.“
Er hatte die Hände des Methusalem losgelassen und war langsam in die Knie gesunken. Er legte sein Gesicht in seine Hände und schluchzte laut vor Freude und Seligkeit.
Dem Studenten standen Tränen der Rührung im Auge. Der Gottfried stand da, zog allerlei Gesichter, um seiner Bewegung Herr zu werden, und platzte, da ihm das nicht gelingen wollte, in zornigem Ton los: „Und dieser juten Seele habe ich eine Kugel in den Leib schießen wollen! O Jottfried, Jottfried wat für dumme Augen hast du jehabt! Wie konntest du dir in diese Weise an dem Sohn deines juten Ye-kin-li verjehen!“
Degenfeld legte dem Chinesen die Hand auf die Schulter und sagte: „Fassen Sie sich jetzt, mein Lieber! Die Zeit ist uns kurz zugemessen. Warten Sie noch eine Stunde; dann sollen Sie alles erfahren.“
„Sie haben recht“, antwortete der Mandarin, indem er sich erhob. „Wir müssen fort. Ich darf nicht hier bleiben. Erst wollte ich gezwungen mit Ihnen gehen; nun aber bitte ich Sie, mich zu führen, wohin es Ihnen gefällt. Aber sagen Sie mir vorher nur noch, ob Sie etwas von meinen Geschwistern wissen?“
„Ich kenne ihre Namen“, antwortete Degenfeld. „Ihr Bruder führt den Namen Liang-ssi; Ihre Mutter wurde Hao-keu genannt, und Ihre beiden Schwestern heißen Méi-pao und Sim-ming. Ist das richtig?“
„Ja, ja, es ist richtig. So heißen sie. Sie kennen die Namen ganz genau. Vielleicht wissen Sie auch, ob sie noch leben und wo sie sich befinden?“
„Von dem Bruder weiß ich es, von den andern noch nicht, doch hoffe ich, es auch noch zu erfahren.“
„Dann sagen Sie schnell, schnell, wo ich den Bruder zu suchen habe.“
„Hier in der Stadt.“
„Die ich so schnell verlassen soll! Herr, ich gehe nicht fort; ich bleibe hier, bis ich ihn gesehen habe!“
„Das ist nicht nötig. Sie können getrost mit uns abreisen, da Ihr Bruder dieselbe Reise auf dem Tausendfuß mit uns machen wird.“
„Ist das wahr? Wirklich? Was ist er, und wohin will er? Haben Sie ihn schon gesehen, mit ihm gesprochen?“
„Ja. Er will auch den Fluß aufwärts fahren, da er sich hier nur vorübergehend aufgehalten hat und in der Provinz Hu-nan wohnt. Er hat keine Ahnung, daß sich sein verlorener Bruder hier befindet. Ich bin sogar überzeugt, daß Sie sich bereits gesehen haben, doch ohne sich zu erkennen. Man hat mir gesagt, daß Sie sich in Gefangenschaft befunden haben. Darf ich erfahren, wie Sie entkommen sind?“
„Mit Hilfe eines Freundes meines Vaters, welcher ein hoher Beamter war. Leider waren wir im Gefängnis getrennt worden, so daß es ihm unmöglich war, uns zu gleicher Zeit zu befreien. Als er mir das Tor öffnete, versprach er mir, die Mutter mit den Geschwistern nachzusenden. Den Bruder hatte er bereits gerettet; er gab mir den Ort an, wo ich denselben treffen würde; aber als ich hinkam, fand ich ihn nicht mehr. Ich wartete auf seine Rückkehr ebenso vergeblich wie auf die Ankunft der Mutter und der Geschwister. Da ich nicht in Kwéi-tschou bleiben durfte, weil man dort nach mir forschte, ging ich nach der Provinz Kuang-tung, wo ich sicherer war. Ich zählte damals vierzehn Jahre und mußte mein Leben durch Betteln fristen. Glücklicherweise fand ich immer mitleidige Menschen und dann einen Beschützer, welcher mich liebgewann und, da er keine Kinder hatte, mich als Sohn bei sich aufnahm. Ihm habe ich alles zu
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