32 - Der Blaurote Methusalem
hatten sie kein Bedenken, sich des Unvorsichtigen zu bemächtigen, ihn seines Zopfes und seiner Kleider zu berauben und zu dem Tong-tschi in den Kasten zu stecken. Er sollte mit diesem das gleiche Schicksal erfahren.
Eine solche Behandlung zweier Menschen darf nicht allzu sehr wundernehmen. Unter den schlechten Eigenschaften des ungebildeten Chinesen steht neben der Feigheit die Grausamkeit obenan. Er ist imstande, ein Huhn lebendig zu rupfen und zu braten, und zwar die Beine zuerst, damit diese stark anschwellen und einen knusperigen Leckerbissen geben. Dieselbe Gefühllosigkeit hat er auch dem Menschen gegenüber, sobald es sich um seinen Vorteil oder um eine Tat der Feindschaft handelt. Gegen seine Angehörigen aber zeigt er eine desto größere Milde.
Der Ho-po-so vermochte seine Glieder noch leidlich zu bewegen. Er konnte, wenn auch mit Anstrengung, an das Deck steigen, während sein Leidensgefährte getragen werden mußte. Das geschah selbstverständlich erst dann, als man die nötigen Kleidungsstücke für sie herbeigeschafft hatte. Ihre eigenen Anzüge waren vernichtet worden. Sie mußten sich mit den gewöhnlichen Gewändern begnügen, die man in den Kajüten der Dschunke fand.
Nun saßen sie oben auf dem Verdeck und sogen die frische Morgenluft mit wonnigen Zügen ein. Es wurde im Vorratsraum und der primitiven Küche nach Speisen für sie gesucht. Als Reis und auch noch ein Fleischrest gefunden wurde, sagte der Mijnheer: „Ik wil voor ze kochen en braden; een vuurhaard is daar, ook een ketel hout en de vuurschop – Ich will für sie kochen und braten; ein Feuerherd ist da, auch ein Kessel, Holz und Feuerschaufel.“
„Wat Sie denken!“ lachte Gottfried. „Sie und kochen! Ich möchte mal den Pudding sehen, den Sie zusammenwürgen würden! Nein, dat Kochen ist die meinige Anjelegenheit. Sie würden zu viel Fett in dat Kasseroi schwitzen, wat janz so viel wie ein jelinder Selbstmord wäre.“ Er ließ es sich nicht nehmen, das Essen zu bereiten; der Mijnheer aber stand dabei und erging sich in allerlei kulinarischen Bemerkungen, welche zu seinem unendlichen Mißbehagen von Gottfried leider nicht beachtet wurden.
Indessen beschäftigte sich der Methusalem und Turnerstick mit den beiden Mandarinen, welche von Dankbarkeit für ihre Rettung überflossen. Leider konnten sie ihre Freude nicht ohne einen Wermutstropfen genießen: Sie hatten keine standesgemäßen Anzüge und – keine Zöpfe mehr. Wie durften sie sich in Hongkong ohne beides sehen lassen! Nach längerem Hin- und Herreden kamen sie mit Degenfeld dahin überein, daß er ihnen Kleider und falsche Zöpfe, aber recht lange und starke, in Hongkong, wo das alles zu haben war, besorgen solle. Das dafür ausgelegte Geld sollte er in Kanton erhalten. Aus letzterem Grund und auch aus Dankbarkeit wurde er von ihnen eingeladen, mit seinen Gefährten ihr Gast zu sein.
Er nahm diese für seine Zwecke so vorteilhafte Aufforderung sofort an. Er konnte ihnen den eigentlichen Zweck seiner Reise freilich nicht sagen; von ihnen nach demselben befragt, erklärte er, daß er aus der fernen Heimat gekommen sei, um in der Hauptstadt von Hu-nan einen dort wohnenden weltberühmten Gelehrten zu besuchen. Er sei von dem Han-lin yuen (Akademie der Wissenschaften) Deutschlands extra zu dem Zweck abgesandt worden, diesem großen Kenner der klassischen Bücher die Hochachtung der westlichen Länder zu erweisen.
Das schmeichelte ihrem nationalen Selbstgefühl so, daß der Ho-po-so erklärte: „Das freut mich sehr. Ich ersehe darauf, daß die Taotse-kue ein gebildetes Volk sind, würdig, von uns Unterricht zu empfangen. Ich werde, soviel ich kann, dieser Reise allen Vorschub leisten.“
„Auch mir gefällt dieser Auftrag, den Sie erhalten haben“, stimmte der Tong-tschi bei. „Ich ersehe aus demselben, daß Ihre Landsleute vernünftige Menschen sind, welche die Überlegenheit unsrer Literatur anerkennen. Diese Bescheidenheit ist der erste und sicherste Schritt zur wissenschaftlichen Größe. Die Fu-len (Holländer), Flan-ki (Franzosen) und Yan-kui-tse (Engländer) sind schon so lange mit uns in Verbindung, ohne zuzugeben, daß wir ihnen überlegen sind. Sie werden also nichts lernen und zu Grunde gehen. Zwar ist es meine Pflicht, darüber zu wachen, daß sich nicht Ausländer unnötig in unsern Distrikten bewegen und gar durch fremdländische Kleidung und ungewöhnliche Manieren unserem Volk ein schlechtes Beispiel geben; aber bei Ihnen will ich eine Ausnahme
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