328 - Flucht aus dem Sanktuarium
Chaymacanerin stürmten sie über den Feldsaum die Uferböschung hinunter. Und keiner hielt sie auf.
»Lasst sie ziehen!« Rodolfo befahl seinen Männern, die Landrover zu holen. »Und sammelt die überlebenden Doggerillos ein. Wir verschwinden von hier!« Dann wandte er sich an Carlos, der mit seinen Leuten immer noch abwartend an der Böschung stand. »Wir fahren nach Kingston. Dann werden wir ja sehen, was an deiner Geschichte dran ist. Falls du gelogen hast, gnade dir Wudan. Die Boote des Gouverneurs sind schneller als eure armseligen Holzinseln.«
***
Zur gleichen Zeit in Kingston
Auf dem großen Platz vor dem Hangar beobachteten Matt und der Professore, wie der glühende Mondmeteorit am Horizont verschwand. Bis zuletzt hatte Matthew gehofft, dass eine weitere Abfangrakete aus Kourou den Brocken noch vor dem Einschlag zertrümmern würde. Aber in den letzten Tagen waren zu viele größere Trümmerteile auf die Erde herabgeregnet, als dass die Hoffnung bestand, es könnten noch Raketen zum Abschuss übrig sein.
Ganz unspektakulär erfolgte der Einschlag: Die Sonne strahlte unter klarem Himmel und eine sanfte Brise wehte. Nur das ferne Jaulen streunender Hunde und die Vogelschwärme, die mit aufgeregtem Gezwitscher von Baumkronen und Hausdächern aufstoben, zeigten, dass die natürlichen Abläufe der Umgebung in Unordnung gerieten.
Der Professore seufzte. »Noch vier Stunden bis zur Welle, vielleicht auch fünf, mit etwas Glück.« Müde sah er aus und seine Stimme zitterte.
Matthew klopfte ihm ermutigend auf die Schulter. »Die Evakuierung der Stadt sollte inzwischen abgeschlossen sein. Sicherlich werden es die Menschen schaffen, rechtzeitig in die Berge zu kommen.« Noch während er die Worte aussprach, wusste er, dass sie den Alten nicht trösten würden. Nach dem, was er Matt in den letzten Stunden erzählt hatte, hielt der Professore Naturkatastrophen für sein Schicksal.
Er hatte einst im Nordwesten der Insel gelebt, dessen Bevölkerung durch Beben, Orkane und Bürgerkriege stark dezimiert worden war. In jungen Jahren studierte er dort die Bücher der Alten aus den Ruinen der University of Technology in Montay, dem ehemaligen Montego Bay. Mit dem angeeigneten Wissen begann er zu forschen und entwickelte unter anderem Methoden, aus Meerwasser Salz und Trinkwasser zu gewinnen.
Doch nie konnte er lange genug an einem Ort bleiben, um seine Projekte erfolgreich abzuschließen. Immer wieder zerstörten Naturkräfte sein Heim und mit ihm Labor und technisches Equipment, welches er sich im Laufe der Zeit mühevoll aufgebaut hatte.
Als bei einem Orkan auch noch seine Familie ums Leben kam, zog er, wie viele andere auch, in den Süden und landete schließlich in Kingston. Der Gouverneur holte den Professore in seinen Stab und beauftragte ihn mit einem Projekt zur Treibstoffgewinnung.
Tatsächlich gelang es ihm, aus Zuckerrohr Sprit für Wasser- und Landfahrzeuge zu gewinnen – Bioethanol. Fünfzehn Winter war das her. Und entsprechend unglücklich war der hagere Mann über die Aussicht, jetzt wieder alles, was er sich aufgebaut hatte, verlassen zu müssen. Da tröstete auch nicht, dass der Professore sein Schicksal mit vielen anderen teilen musste.
Matthew leistete dem trauernden Alten schweigend Gesellschaft, als im Eingangsbereich des Hangars die Gestalt von Kiké Tengoca erschien. Der narbengesichtige Hauptmann näherte sich mit ausholenden Schritten. Er hatte Harnisch und Schärpe abgelegt und rubbelte sich mit einem dreckigen Lappen Schmiere und Öl von Armen und Händen. Zusammen mit Miki Takeo hatte er den Fuhrpark des Gouverneurs auf Vordermann gebracht. Bei der Fahrt in die Berge durfte es keine Ausfälle geben.
»Wir sind so gut wie abfahrtbereit«, vermeldete er. »Fehlen nur noch Dorgecà und die hohen Herren, damit wir von hier verschwinden können.«
Hört, hört, dachte Matt und warf dem Narbengesicht einen prüfenden Blick zu. Das klang ja nicht sehr respektvoll. Gab es etwa Differenzen zwischen dem Hauptmann und seinem Gouverneur?
Aber das interessierte ihn im Grunde nicht. Viel mehr Gedanken machte er sich seit geraumer Zeit um Xij. Wo sie nur blieb? Sie war von ihrer letzten Tour zum Hospital nicht zurückgekehrt. Wieder hielt er Ausschau nach ihr und entdeckte dabei mehrere Landrover, die vom Hafen her kamen: der Gouverneur und sein Stab.
»Wenn man vom Teufel spricht«, knurrte Kiké Tengoca. Er stopfte den Lumpen in seine Hosentasche und stapfte zurück in den Hangar, um seine
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