328 - Flucht aus dem Sanktuarium
blickte er zum verschlossenen Kühlraum. »Projekt Bio-Storm« war noch nicht abgeschlossen. Jahrelang hatten sie mit dem Stoff experimentiert. Ihn an kolkartigen Vögeln ausprobiert. Doch bislang waren die Probanden allesamt am Biogen verendet. Und nicht, wie geplant, resistent gegen Stress und Schmerz geworden. Die Brut der Vögel bildete auch keine Schuppenhaut aus. Nicht die geringste Veränderung der Gene, nur elendes Verrecken! In Wasser aufgelöst, war das Serum tödlich für Mensch und Tier.
Obwohl die Ergebnisse nichts mit der ursprünglichen Zielsetzung des Projekts zu tun hatten, war Clark Manuel begeistert gewesen. Doch noch hatte Brown den Stoff nicht freigegeben. Schließlich war er Wissenschaftler und kein Giftmischer. Nun aber spielte all das keine Rolle mehr. Aus und vorbei! Das Sanktuarium würde heute noch für unbestimmte Zeit aufgegeben werden.
Er dachte an July Svenson. Jetzt würden sie endlich die Reise nach Meeraka unternehmen können. Schon lange wollten er und seine Geliebte die alte Heimat besuchen. Meine Geliebte! Immerhin das blieb. Wo war sie überhaupt? Hatte sie sich nicht am Morgen krank gemeldet? Wusste sie denn, was hier vor sich ging?
Begleitet von Wachpersonal und Smitty machte sich Brown besorgt auf den Weg zu Julys Räumlichkeiten. Dort angelangt, erhielten sie keine Antwort auf Klopfen und Rufen. Die Tür war verschlossen. »Vielleicht ist sie mit ihren Kindern bereits beim Sammelpunkt«, gab der kahlköpfige Assistent zu bedenken, während der Laborchief am Türholz lauschte.
»Sie ist da drinnen, ich kann es doch hören.«
Nun lauschte auch Smitty. Und tatsächlich – aus dem Inneren drangen merkwürdige Laute. So merkwürdig, dass Brown von den Wachen verlangte, die Tür aufzubrechen.
***
Sanktuarium, Februar 2528
Die Klopfgeräusche hörte der Daa’mure kaum noch; manchmal nur tönte vom Ende des Trakts ein hölzernes Schlagen, als würde ein Kantholz zu Boden fallen.
Langsam schritt Grao’sil’aana von Zelle zu Zelle. In jeder riss der Lichtkegel seiner Lampe die Umrisse von mindestens drei Primärrassenvertretern aus der Dunkelheit. Keiner rührte sich. Die Gefangenen schliefen nicht, waren auch nicht bewusstlos – sie waren tot.
Hinter den Gittern der vorletzten Zelle lebte noch einer: der Klopfer. Die Toten um ihn herum trugen Uniformen. Einem fehlte der linke Unterarm.
Der Daa’mure richtete den Lichtkegel auf den Überlebenden. Er lag auf dem Rücken und mit der linken Seite dicht an das Gitter gepresst. Ein kahlköpfiger Primärrassenvertreter in einem ehemals weißen Labormantel und mit eingefallenem, gelbhäutigen Gesicht. Er bewegte die von schwärzlicher Kruste belegten Lippen. Seine knochige Rechte umklammerte einen starren Unterarm mit einer von schwarzem Leder überzogenen, steiffingrigen Hand.
Eine Prothese.
Der Tote neben ihm hatte sie getragen.
Jetzt hob er sie an, und er tat es mit einer Bewegung, die aussah, als wäre die künstliche Hand aus massivem Blei; es gelang ihm kaum, die Prothese mehr als eine Handbreite weit über den Boden zu heben, dann ließ er sie in einer erschöpften Geste wieder fallen. Hölzern und dumpf schlug sie am Boden auf.
Grao ging vor dem Zellengitter in die Hocke. »Wer sind Sie?« Der Primärrassenvertreter drehte den Kopf ein wenig, blinzelte ins Leere, bewegte die Lippen und krächzte leise. Grao’sil’aana zwängte seine Hand durchs Gitter, berührte Stirn und Wangen des Eingekerkerten. Der Gefangene glühte.
Grao machte sich nichts vor: Der Mann war verloren. Zum einen erschien sein letaler Zustand unumkehrbar, zum anderen hatte Grao weder Zeit noch Lust, die Gitterwand aufzubrechen oder den Mann mit sich zu schleppen.
Da kam ein verständliches Wort über die Lippen des Sterbenden: »Mädchen...«
Grao’sil’aana stutzte. Meinte er das Geschwisterpaar? Er beugte den Kopf näher an die Lippen des Mannes heran. »Die Mädchen... und die Mutter«, wehte es ihm entgegen. »Sie müssen... sterben!«
***
Harbour View, Jamaika, April 2528
Die Doggerillos stimmten ein schauriges Heulen an, als das glühende Trümmerteil des Mondes am Horizont niederging. Einige der Feldarbeiter warfen sich ängstlich zwischen die Zuckerrohrstauden. Andere liefen schreiend zu den Wächtern, als könnten die Carabineros ihnen Schutz bieten. Wieder andere scharten sich um Salma, die mit ruhiger Stimme verkündete: »Habt keine Angst. Der Meteorit ist weit entfernt ins Meer gestürzt.«
Doch ihre Worte konnten die
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