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34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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in den Keller räumen. Hören Sie die Trommeln?«
    »Nein, keinen Ton, aber das macht nichts, ich sehe sie vor mir«, sagte sie.
    »Wann geht es eigentlich los?«, fragte er dann.
    »Womit?«, entgegnete sie.
    »Wann ziehen Sie hier ein, meine ich?«
    Ella schluckte, schaute sich in ihrer Wohnung um: »Ich muss es noch mal sagen: Es ist klein hier, wirklich klein und…«
    »Wann, Ella, wann?«
    »Auch morgen, alles morgen.«
    Horowitz schwieg, dann sagte er: »Morgen schon? Herrlich!«
    »Am Montag fängt meine Arbeit an.«
    »Sie meinen es ernst.«
    Ella nickte wieder.
    »Ich gehe davon aus, dass Sie schon wieder genickt haben. Morgen wird ein wunderbarer Tag, Ella, ich danke Ihnen. Jetzt muss ich aber schnell aufhören, ich habe noch einiges zu tun.«
    Als wäre es ein Ball.

8
    Mitten in der Nacht. Horowitz stand im »großen Salon« und raufte sich die Haare. In den letzten paar Stunden hatte er versucht, seine Sachen zu packen. Am Schluss waren es nur ein paar Kleidungsstücke und Waschutensilien gewesen, die er achtlos in einen alten Seesack geworfen hatte, sonst nichts; keine Reiseschreibmaschine, kein einziges Buch, keines seiner zahllosen Notizbücher, keine Aufzeichnungen, nichts, womit er sich sein Leben lang beschäftigt hatte; nicht einmal sein über tausendseitiges Manuskript wollte er mitnehmen, obwohl er es doch in der fremden Umgebung ein letztes Mal gegen den Strich lesen und so vielleicht doch noch zu Ende bringen wollte. Und auch wenn er deswegen eine ihm nicht zu erklärende Erleichterung verspürte, war ihm zum Weinen zumute. Konnte er überhaupt noch weinen? Wann hatte er überhaupt das letzte Mal geweint? Vielleicht war es das letzte Mal in diesem Traum gewesen, diesem Traum, der ihm bis heute nicht mehr aus dem Kopf ging.
    In dem Traum war ihm Kapitän MacWhirr von der Nan-Shan begegnet. Der Kapitän aus Joseph Conrads Erzählung Taifun , der Kapitän, der alle großen und kleinen Winde sorgfältig in sein Schiffstagebuch eintrug und beim Herannahen eines Sturms in sein Kartenhaus hinabstieg, um erst einmal in seinen Büchern grundlegende Informationen zu Stürmen nachzuschlagen; der große Theoretiker unter den Kapitänen, einer der wenigen Kapitänsfiguren, die nicht von einer zerzausten Persönlichkeit besetzt und folglich auch wenig charismatisch und gefürchtet waren, diesem Kapitän begegnete er auf der Fasanenstraße, direkt vor seinem Haus. MacWhirr in Seemannskluft und Kapitänsmütze, er selbst barfuß in einem braunen Frottee-Bademantel mit tiefen Taschen, in die er seine Hände nach der respektvollen Begrüßung sofort wieder vergrub.
    »Sie hier?«, fragte MacWhirr. »Was macht Ihr Schiff?«
    Horowitz schaute an der Fassade seines Hauses hinauf, deutete mit schlapper Armbewegung nach oben auf die Reihe Fenster, die von seiner Wohnung sichtbar waren, und antwortete: »Ich bin abgetakelt.«
    »Aha«, sagte MacWhirr, »das scheint mir aber auch so. Wie laufen Sie eigentlich herum? Sind Sie vom Kurs abgekommen? Manchmal darf man dem Unwetter nicht aus dem Weg gehen, sondern muss gegen es andampfen. Gegenandampfen, Kapitän Horowitz! Die alte Nan-Shan hat den Taifun überlebt, durchlöchert wie eine Zielscheibe, aber ich habe sie nicht verloren. Wäre ich abgedreht, dann…«
    Daraufhin brach MacWhirr in Tränen aus.
    Und Horowitz mit ihm.
    Zwei Männer – einer in Uniform, der andere in Bademantel – standen schluchzend auf der Fasanenstraße und hielten sich an den Unterarmen. Als es vorüber war, schob Horowitz seine Fäuste wieder tief in seine Taschen, und MacWhirr sagte: »Sie sollten wenigstens bootstaugliches Schuhwerk tragen, sonst…«
    »Yes, Sir«, entgegnete Horowitz und hob die Hand zum militärischen Gruß.
    Dann drehte Kapitän MacWhirr ab, überquerte die Fasanenstraße und verschwand im Literaturhaus, während Horowitz wieder die Treppen zu seiner Wohnung hinaufstieg und dachte: Nur der Horizont kommt nicht näher, alle anderen sind Verräter.
    Dann war Horowitz aufgewacht. Der Traum hatte ihn mit diesem sperrigen Satz einfach stranden lassen. Mit feuchten Wangen war er aufgestanden und hatte bis ins Morgengrauen das Zimmer leer geräumt, das seine Schwester damals noch besetzt hielt, als hätte sie ein Recht darauf, ein Teil seines Lebens zu sein. So lange hatte er es ausgeräumt, bis nichts mehr darin verblieben war. Dann hatte er mit einem Kugelschreiber eine Linie an die Wand gezeichnet.
    Das war das letzte Mal, dass er geweint hatte, und es war wirklich Jahre

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