34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
her.
Morgen würde Ella in seine Wohnung ziehen, durch die Räume gehen, ihm nachspüren und nach und nach sein Leben entschlüsseln. Eigentlich wollte er seine Wohnung tauschen, um Abstand zwischen sich und sein Leben zu bringen, und nun hatte er sich eine Zeugin ins Haus geholt. Doch was würde sie bezeugen? Dass er das Leben eines großen Forschers gelebt hatte, eines originellen Geists und Freidenkers, oder das eines Menschen, der an seinem Ziel gescheitert war und sein Werk nicht vollendet hatte?
Wenn sein Werk vollendet wäre, dann hätte er es auf dem Sofatisch liegen lassen können. Es hätte erklärt, warum er keine Familie gegründet, kaum eigenes Geld verdient, keine ordentliche Wissenschaftlerkarriere eingeschlagen hatte, nicht Antiquariatsbesitzer, Reisejournalist oder Mitarbeiter in einem Historischen Museum geworden war. Es könnte erklären, warum er nichts von all dem geleistet hatte, was man gemeinhin ein gelungenes Leben nannte, obwohl es keine äußerlichen Zwänge gegeben hatte, die ihn daran gehindert hätten, keine existentielle Bedrohung, keine Krankheiten und keinen Mangel an Talent, Disziplin oder Möglichkeiten. Ein solches Werk auf dem Tisch würde all das erklären, aber es gab dieses Werk nicht.
Es gab es nicht, obwohl er sein ganzes Leben nach diesem Ziel ausgerichtet hatte, obwohl es seinem Leben lange Zeit einen vorauseilenden Sinn verliehen und ihn angetrieben hatte. Ein Leben ohne dieses Ziel hatte er sich nie vorstellen können, und auch jetzt wusste er nicht, was von ihm übrig bleiben würde, gäbe er es je auf.
Das Ziel hatte also längst ihn in der Hand und nicht umgekehrt. Wenn er ehrlich mit sich war, hatte es ihn in den letzten Jahren auch nicht mehr angetrieben, sondern sich alles einverleibt. Ein Phantasma, das nicht mehr zu sättigen war. Alles hatte er dafür geopfert, dem Meer nahezukommen, es zu begreifen, es in einer Form zu porträtieren, die es in seiner Ganzheit fasste. Tausende von Seiten hatte er geschrieben, hunderte von Skizzen angefertigt, Statistiken ausgewertet, alte und neue Studien verglichen, sich mit Häfen, Inseln, Winden, Stränden, Mineralien, Fischen, Tiefen und Wellenformen (und, ja, auch mit dem Urschleim) beschäftigt, den Einfluss des Meeres auf die Geschichte des Menschen untersucht. Bei jeder Ausstellung zu dem Thema wurde er befragt, zu jeder Konferenz, die sich mit dem Meer beschäftigte, geladen, er korrespondierte mit den wenigen noch tätigen Naturhistorikern auf der ganzen Welt und irgendwann auch mit Cousteau. Man hatte ihm mal einen Forschungsposten an einer renommierten Universität angeboten, aber er hatte abgelehnt, weil er unabhängig bleiben und keine Zeit in Institutsratssitzungen verschwenden wollte.
Aber hatte ihn das alles seinem Ziel näher gebracht, die heutigen Menschen zur Räson und zum Umdenken zu bringen? Oder war er vielmehr um ein leeres Zentrum gekreist? Immer mal wieder in Momenten der Erschöpfung war ihm eine Ahnung dieser Leere entgegengeweht, doch dann hatte er umso verbissener daran festgehalten, vielleicht um vor sich selbst und der Welt nicht das Gesicht zu verlieren.
Horowitz verließ den »großen Salon« und eilte durch den Flur in die Küche. Er drehte den Hahn auf, ließ Wasser in ein Glas laufen und trank es in einem Zug leer. War das Ziel seines Lebens eine Fata Morgana gewesen? Und er nur ein Zuschauer? Ein Zuschauer seines eigenen Schiffbruchs. Schiffbruch mit Zuschauer , Blumenberg, Titel eines seiner Lieblingsbücher – er hatte es nie mit sich, seinem Werdegang, seinem Leben in Verbindung gebracht. Es war ja wohl der Gipfel der Peinlichkeit, sich sein Leben im Repertoire von Meeresbildern zu erzählen, wenn man festen Boden unter den Füßen hatte. Was für ein gescheiterter Emphatiker, was für ein lächerlicher Romantiker er doch war! Horowitz lief zurück in den »großen Salon«, fischte den Bart aus dem Papierkorb, zog die Folien von den Klebestreifen und drückte sich den Bart ins Gesicht. Seine Schwester hatte vielleicht doch recht gehabt. Er war eine Witzfigur, ein Faschingskapitän, mehr nicht.
Kapitän MacWhirr hatte die Lage also völlig verkannt: Sein Problem war nicht, dass er vom Kurs abgekommen war, sondern dass er Kurs gehalten hatte – koste es was es wolle – und dabei das große Ganze gefährlich nah ans große Nichts herangesegelt war.
Horowitz trat ans Fenster, öffnete es und schaute hinüber zum Literaturhaus und der daneben liegenden Villa Grisebach. Was für ein
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