34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
ihre Liebe einfach nur ausgetrudelt war – ohne Streit und ohne Gram –, und sie immer noch ab und zu miteinander schliefen. Das Gurkenglas hatte ihr eine Freundin mitgebracht, die sich nichts sehnlicher wünschte als ein Kind. Sie hatte bei ihr und ihren anderen Freundinnen Gurkengläser deponiert und sie gebeten, sie aufzubewahren, bis sie der schwangerschaftliche Heißhunger überkam. Kleine Wunsch-Satelliten hatte sie die Gläser genannt. Und wie konnte man einen als Gurkenglas verkleideten Wunsch entsorgen oder gar banal finden?
Sie würde das Licht einfach nicht mehr anschalten.
10
Morgens packte Ella zwei Taschen und schaute sich noch einmal flüchtig in ihrer Wohnung um. Sie musste jetzt sofort aus dem Haus, sonst würde erneut diese Tabula rasa anfangen und ihr Leben innerhalb von Sekunden vor ihren Augen zerbröseln. Sie nahm die Treppen im Haus trotz schwerem Gepäck im Laufschritt, stieg die Rolltreppe am U-Bahnhof hinab, in die U-Bahn ein, aus der U-Bahn aus, die Rolltreppe hinauf, bog vom Kudamm in die Fasanenstraße ein und klingelte an Horowitz’ Tür. Nicht einen Blick hatte sie auf dem Weg ausgetauscht, nicht einmal gelächelt. Wie eine kleine Kapsel war sie von Ost nach West gesaust. Sie hatte ein flaues Gefühl im Magen. Plötzlich wusste sie nicht mehr, warum sie so schnell eingewilligt hatte, warum sie ihre Wohnung, in der sie sich wohlfühlte, gegen die Titanic tauschte. Zum Glück würde Horowitz ihr ungutes Gefühl gleich mit seinen Wortkaskaden zerstreuen und die Situation in die Hand nehmen.
Aber nichts dergleichen geschah: Horowitz öffnete die Tür schweigend, ohne sie anzusehen – auch er eine kleine Kapsel. Er half ihr wortlos, die Taschen in den Flur zu stellen, und übergab ihr einen Schlüsselbund. Auch Ella bekam kein Wort heraus. Warum fühlten sie sich beide so ertappt? Horowitz schulterte einen alten, verwaschenen Seesack und sagte leise, den Blick immer noch auf den Boden gerichtet: »Es geht nur so. Versuchen Sie, sich hier irgendwie zu Hause zu fühlen. Ich kann es nicht mehr. Ich hatte eine furchtbare Nacht. Ich habe alles mit Ihrem Blick gesehen…, aber was soll’s! Ich hab Ihnen noch ein paar Zettel in der Wohnung hinterlassen, damit Sie wenigstens ein bisschen was zu lachen haben und das hier alles besser verkraften können. Tut mir leid, Ella. Wir telefonieren.«
»Ich…«
Er winkte ab: »Sie lassen mich in Ihrer Wohnung schlafen, das ist mehr, als ich je erwarten konnte.«
Ella wollte ihm von ihrer Nacht erzählen, davon, dass es ihr genauso ergangen war, aber Horowitz war schon fast auf der Treppe. Sie streckte ihm noch ihre Schlüssel entgegen, nannte ihm die Adresse und sagte: »Wenn es Ihnen bei mir nicht gefällt, dann kommen Sie einfach gleich wieder zurück, ja?«
Er schüttelte den Kopf und schaute sie mit einem tiefliegenden Blick an. Dann flüsterte er: »Viel Glück«, und verschwand.
Ella schloss die Tür hinter sich und stand in dem langen, mahagonigetäfelten Flur. Da entdeckte sie einen kleinen gelben Zettel auf der Tür zum Esszimmer. Sie zog das Papier von der Tür ab und las: Wussten Sie, dass Fische seekrank werden, wenn man sie transportiert?
Sie trat in den »großen Salon«. Auf dem Sofatisch standen ein Aschenbecher, eine glänzende, große Muschel, ein in schwarzes Leder gebundenes Notizbuch. Daneben ein weiterer gelber Zettel, auf dem in der altmodischen Schrift, die ihr schon auf dem Ampelzettel ins Auge gestochen war, geschrieben war: Wussten Sie, dass Fische die ersten Tiere waren, die Gott erschuf?
Sie ging in die Küche, und auch dort lagen eine Muschel, ein schwarzes Notizbuch und ein kleiner, gelber Zettel: Wussten Sie, dass die Augen des Kolosskalmars so groß wie Suppenteller sind?
Sie ging in das Bad, das gegenüber der Küche lag. Darin gab es eine freistehende Badewanne mit geschwungenen Messingfüßen, und auf dem Spiegel über dem Waschbecken klebte folgender Zettel: Wussten Sie, dass Riffbarsche unter Wasser Unkraut jäten?
Und so ging das in der ganzen Wohnung weiter, Horowitz hatte überall diese Zettel verteilt, und Ella jauchzte jedes Mal, wenn sie einen entdeckte. Herrliche maritime Kuriositäten und offensichtlich auch einige der schönsten Zeilen, mit denen das Meer besungen worden war. » Die Vermehrung der Häfen verringert nicht die See« , stand da, oder: »Einmal sahen wir Möwen: / Wir stellten uns das Meer vor. / Einmal sahen wir keine Möwen: / Wir stellten uns das Meer vor.« Oder: »Mit nichts
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