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34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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es sie mit in diesen Kuss hinein, als gehörte sie dazu, als gehörte sie in jeden Kuss, den Paul verteilte.
    Der kleine Junge war zwischen Paul und der Frau eingeklemmt und schielte auf die andere Straßenseite, wo Ella stand und nicht wegschauen konnte, weil Paul gerade eine andere Frau küsste. Ella erhaschte einen Blick des kleinen Jungen, der Pauls Augen hatte, der Pauls Sohn war und der zwischen seinen Eltern steckte, die sich jetzt nicht mehr küssten.
    Ella versuchte ihn anzulächeln, aber sie verzog nur den Mund. Der kleine Junge verzog auch den Mund, und sein Blick war traurig und tapfer. Da konnte Ella sich endlich abwenden. Als sie wieder hinschaute, fasste Paul der dunkelhaarigen Frau um die Taille, mit einem festen Griff, seinem Griff, den sie doch gerade erst kennengelernt hatte. Paul strich dem Jungen einmal über die Haare, bevor die Frau mit den roten Lippen und der kleine Junge Arm in Arm davonschlenderten, mit dem unnachahmlichen Hüftschwung einer Charlotte Gainsbourg, so verlottert lasziv. Paul winkte ihnen nach und schien noch eine Weile den Anblick von hinten zu genießen, bevor er zurück in den Laden ging, sich an den großen hellen Tisch stellte, den man durch das Schaufenster hindurch erkennen konnte, und seine Arbeit fortsetzte.
    Ella stand gekrümmt da.
    Paul war noch mit seiner Frau zusammen? Er hatte nicht darüber gesprochen, hatte nicht den Eindruck erweckt, dass es ein zweites Leben gab, das er vor ihr geheim hielt, er hatte nicht von seiner Frau erzählt und nicht davon, dass er ihr um die Taille fasste und sich küssen ließ, und nicht davon, dass er sich mit ihr vor seinem Laden mitten in Berlin stritt, wo ihn jeder sehen konnte, jeder, also auch sie, weil sie doch ganz in der Nähe wohnte und jederzeit vorbeispazieren konnte, und er das deswegen doch nicht so öffentlich machen konnte, das mit der Taille und dem Kuss und seiner Frau…
    Ella stellte sich vor einen Schuhladen und versuchte sich das Schaufenster anzusehen, aber sie konnte nichts erkennen – außer Schuhen.
    War ihre Beziehung zu Paul schon zu Ende, bevor sie überhaupt richtig angefangen hatte, oder war das alles nur ein Missverständnis? Paul und sie kannten sich ja noch nicht lange, und nur weil sie sich alles mit Paul vorstellen konnte, wie man sich am Anfang immer alles vorstellen kann, hatte er vielleicht noch gar nicht versäumt, es ihr zu sagen, weil er einfach noch nicht dazu gekommen war, es ihr zu sagen. Es gab noch kein gemeinsames Leben, das hier und jetzt gerade auseinanderbrach, oder auch nicht auseinanderbrach, weil es ein Missverständnis war. Aber die Vorstellung eines gemeinsamen Lebens gab es, und die zeichnete einen Bogen, der bis in den Himmel reichte, und diesen Bogen konnte sie jetzt nicht unterbrechen, ohne abzustürzen und sich alle Knochen zu brechen.
    Paul verpackte mit routinierten Handgriffen einen großen Rahmen in Luftpolsterfolie.
    Warum konnte sie nicht ein einziges Mal so reagieren wie ihre Schwester? Die würde jetzt über die Straße gehen, Paul eine gesalzene Szene machen und dann nach Hause stampfen. Ihre Schwester würde sich daran festhalten, was sie gesehen hatte, und nicht daran, was sie nicht sehen wollte. Ihre Schwester würde ihre Wünsche begraben und sich an die Realität halten.
    Paul trug den verpackten Rahmen nach hinten, verschwand kurz und kam mit einem großen, weißen Stück Pappe zurück.
    Ella drehte sich wieder um und stellte sich vor das nächste Schaufenster: ein Fahrradverleih, auch hier nur Einzelteile: Räder, Schläuche, Pumpen.
    Morgen fing ihre Arbeit an, Paul hatte Horowitz’ Nummer nicht, seine Adresse nicht. Wenn sie jetzt einfach verschwand, würde er sie also nicht finden. Charlottenburg war fern.
    Und wenn er sie wirklich nie wieder fand? Was war dann? Würden die Geschichten, aus denen ihr Leben bestand, dann wie Dominosteine umfallen, eine nach der anderen? War es vielleicht besser, so zu tun, als ließe sich diese Szene irgendwie einbauen? Ella wendete sich wieder dem Laden zu.
    Paul stand jetzt am Fenster, hatte die Hände wieder in seinen Hosentaschen vergraben und schaute zu ihr hinüber. Ihre Blicke trafen sich, sein Blick weitete sich kurz, als habe er einen Schreck bekommen, doch dann öffnete er sich zu einem Strahlen. Warum strahlte er? Konnte er im Ernst glauben, dass sie nichts gesehen hatte? Er winkte sie zu sich herüber und sah dabei aus wie der Paul, den sie kannte.
    Sie blieb stehen. Paul war inzwischen aus seinem Laden

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