34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
getreten und rief nun über die Straße: »Ella!«
Ella blieb stehen.
»Ella?«, hörte sie Paul erneut rufen.
Ella überquerte die Straße, und kein Autofahrer hupte, nicht ein einziger Autofahrer merkte, dass sie sich mit jedem Schritt in Pauls Richtung einem Leben annäherte, das sich weiterleben ließ. »Passen Sie bloß auf, dass Ihnen so was nicht passiert…« Die Worte der Alten.
Paul nahm ihre Hand und zog sie die letzten Meter durch eine Lücke zwischen zwei parkenden Autos zu sich hin, und als sie bei ihm war, griff er ihr um die Taille. Und vielleicht wäre dieser Griff leichter zu ertragen gewesen, wenn er sie kaltgelassen hätte.
»Ella?«, flüsterte Paul in ihr Ohr, und sie wünschte sich nichts mehr, als dass sie die Szene vorhin einfach vergessen könnte. Ein vertrauter Schmerz breitete sich in ihr aus. Sie kannte diesen Schmerz, sie kannte ihn aus ihrer Kindheit. Nichts würde sie jetzt trösten können, nichts und niemand.
»Ella?«, fragte Paul nah an ihrem Ohr.
»Totalschaden«, wollte sie sagen, »hast du’s gesehen? Es ist vollkommen kaputt. Dabei glänzte es doch gerade noch so unverwüstlich, so perfekt, so dunkelblau.«
Das wollte sie sagen, aber sie sagte nichts, stattdessen schmiegte sie sich an ihn und schwieg. Und als sie ihn spürte, dachte sie, dass die Härte und Fremdheit, die in der Szene mit seiner Frau gelegen hatten, noch viel schwerer auszuhalten waren als der Kuss, den sie gesehen hatte. Der Kuss ließ sich vielleicht überschreiben mit anderen Küssen, der Kuss würde vielleicht langsam verblassen, aber das Harte, das Fremde, der Paul, den sie nicht kannte und der sie abschreckte, dieser Teil der Szene war nicht zu überschreiben, er klumpte sich in Ellas Magen zusammen.
Paul streichelte ihren Rücken und sagte in einem zögerlichen Ton, als müsste er sich die Wörter abringen: »Also, das ist mein Laden. Gefällt er dir? Nicht gerade groß, aber viel Licht durch das große Schaufenster, und dauernd kommt jemand vorbei, den man kennt.«
»Hm«, sagte Ella und blieb an seiner Brust, weil jetzt die Tränen nahten, die er auf keinen Fall sehen durfte, weil sie sonst etwas erklären musste, das sie nicht erklären konnte. Eine Szene würde alles noch schlimmer machen, das hatte sie inzwischen gelernt. Jede Szene brennt das Geschehene nur noch tiefer ein, mit einer Szene zieht man sich das Geschehene an, obwohl man es sich doch gerade vom Leib halten will. Bloß keine Szene jetzt, bloß nichts manifestieren, was sich vielleicht noch verflüchtigen konnte, wenn man es nicht daran hinderte, sich zu verflüchtigen. Aber es verflüchtigte sich nichts. Der Klumpen in ihrem Magen pochte auf sein Recht und war so schwer, dass sie nicht abtauchen konnte, ohne unterzugehen.
»Ella?« Paul schob sie von sich weg. »Du weinst ja. Also doch. Ella, bitte, rede mit mir!«
Oh, nein, dachte er, hatte sie ihn mit seiner Frau gesehen?
»Ich…«, sagte sie und drehte sich zur Wand.
»Ja?«
Irgendetwas antworten: »Natalia…«
»Ja«, sagte Paul skeptisch.
Wenn sie ihn mit seiner Frau gesehen hatte, dann würde sie doch etwas sagen, dachte er, dann würde sie ihm doch jetzt eine Szene machen.
»Natalia kann sich keinen Reim auf ihr Leben machen«, sagte Ella.
»Ja?«, fragte Paul. »Und?«
Ella schwieg.
»Was hat das mit dir zu tun?«, fragte Paul.
Vielleicht hatte sie ihn also doch nicht mit seiner Frau gesehen?
»Ich auch nicht«, sagte sie.
»Du?«, fragte er. »Gerade du?«
Ella schwieg.
»Aber darum weinst du doch nicht, Ella.«
»Hast du den Porsche vorne auf der Verkehrsinsel gesehen, den dunkelblauen?«, fragte sie und wischte sich die Tränen weg.
Er nickte und schaute sie forschend an. Natürlich hatte sie ihn mit seiner Frau gesehen, warum sollte sie sonst weinen?
»Zeigst du mir jetzt deinen Laden?«
Sie hatte ja direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite gestanden.
»Paul?«
»Meinen Laden?«, fragte Paul. »Ich kann dir jetzt doch nicht meinen Laden zeigen.«
Draußen lief ein Mann vorbei, der grüßte, Paul grüßte flüchtig zurück.
»Dauernd kommt jemand vorbei, den man kennt«, sagte Ella.
Sie hat den Kuss gesehen, dachte Paul. Warum tobte sie nicht, schrie sie nicht, stellte ihn nicht zur Rede? Sollte er sie jetzt darauf ansprechen? Musste er das? Warum hatte er seine Frau bloß geküsst, obwohl er sie nicht küssen wollte? Warum fühlte er sich seiner Frau so verpflichtet, obwohl er wusste, dass es vorbei war, schon lange? Es ging nicht
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