34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
Hochzeit seiner Schwester. Wie kann man nur heiraten, hatte er sich damals gedacht, wie kann man nur so wenig wollen vom Leben? Und dann? Dann hatte er weiter die große Liebe ersehnt, sie sich gleichzeitig vom Leib gehalten und sich immer weiter verstrickt in sein eigenes Klischee. Er, der große Abenteurer, der niemals zur Ruhe kommt, er, dem die ganze Welt offensteht, der zu freiheitsliebend für die Liebe war, zu unstet für den Hafen. Lächerlich!
Horowitz drehte sich um. Morgen würde er auf den Dorotheenstädtischen Friedhof gehen und Brecht und den anderen von seinem Leben erzählen. Der gestrandete Meeresforscher – wenn das kein Spruch für einen Grabstein war!
»Wie spät ist es?«, fragte ihn ein Mann mit einem weißen Bart und ungepflegter Kleidung, der so verwirrt aussah, als könne ihm keine Uhrzeit der Welt mehr helfen.
Horowitz zuckte mit den Schultern: »Wenn Sie mich fragen: zu spät.«
Der Mann ging kopfschüttelnd weiter. Horowitz blieb vor dem Brautmodenladen stehen und schaute dem Mann nach.
»Rein oder raus?«, fragte ein junger Mann mit rötlich glänzenden Wangen nun.
»Was?«, fragte Horowitz.
»Das ist ein Laden. Wollen Sie rein oder raus?«
Horowitz entschuldigte sich und ging weiter. Das war eine gute Frage: Wollte er rein oder raus?
Horowitz bog noch einmal ab, dann kam er vor Ellas Haus an. Er holte tief Luft und suchte Ellas Namen auf dem Klingelschild. »Rot« war mit Kugelschreiber auf ein ausgefranstes Klebeband geschrieben. Er schaute sich die anderen Namen an: kein Doktoren-, kein Adelstitel. Der Hof des Gebäudes war schäbig, Müllcontainer, ein Ständer mit alten Fahrrädern, Gestrüpp. Ellas Wohnung lag im Hinterhaus. Gartenhaus hatte sie gesagt, aber es war ein Hinterhaus, und es muffelte in diesem Hinterhaus. Im zweiten Stock standen Wanderschuhe einer Frau vor der Tür. Dritter Stock, Ellas Name in Druckbuchstaben, schöne Schrift, schwarze Tinte. Er kramte den Schlüssel aus der Tasche, schloss auf, stellte seinen Seesack hinein und wagte einen ersten Blick ins Innere. Die Wohnung duftete nach Rosenblüten, Limonen und Badeschaum. Er schloss die Augen. Erst hier fiel ihm auf, wie stark es in seiner Wohnung nach totem Tier und verstaubtem Papier und all den Seiten aus all den Büchern toter Autoren gerochen hatte; wie sehr nach Nietzsche, Melville, Conrad und Schildpatt, nach Verne, Michelet, Haifisch und Schwamm.
Er hätte lauthals jubeln können. Ellas Wohnung überstieg seine Hoffnungen. Der freie Blick – nichts, was störte, trübte, bedrängte. Dass ein Raum überhaupt eine solche Klarheit ausstrahlen konnte, hätte er nicht für möglich gehalten. Dreißig Quadratmeter, in denen außer dem hellen Sofa, einem Schreibtisch und einem großen, weißen Bücherregal nichts herumstand, keine losen Papiere, kein Tand, kein Zebra, keine Stapel von irgendwas, keine Nester, keine Fundstücke. Neben der Wohnungstür lag das Bad, dessen beige-braune Geschmacklosigkeit Ella ja schon angekündigt hatte, und neben der Ecke, in der sich die Küche befand, war eine weitere Tür zu sehen, die zum Schlafzimmer führen musste. Das war’s. Mehr gab es hier nicht zu entdecken. Alles wirkte so unbeschrieben. Nichts erinnerte ihn an etwas. Er atmete tief durch. Wie hatte er es nur all die Jahre in seiner Wohnung ausgehalten?
So hatte er nie gelebt, weder als Kind noch als Jugendlicher. Als Kind hatte er ein lichtdurchflutetes Zimmer im heutigen Simbabwe bewohnt, das er manchmal tagelang nicht verlassen durfte, wenn er seinem Vater zufolge wieder etwas ausgefressen oder seiner Schwester eine tote Schlange ins Bett gelegt hatte – dabei waren es nie giftige gewesen. Das Studium hatte er in Paris bei einer Cousine seiner Mutter verbracht, die ihm das Zimmer ihrer Tochter überlassen hatte, welche einige Jahre zuvor an einer Lungenentzündung gestorben war. Dieses Zimmer war winzig, mit schrägen Decken und einer kleinen Luke, durch die er manchmal die Sterne sehen konnte, doch auch dieses Zimmer war mehr Straflager als Freiraum, denn es war noch voller Spuren von seiner Cousine. Natürlich hatte er sich nicht getraut, etwas zu verändern; kein Buch hatte er zur Seite geschoben, um seine eigenen dort aufzustellen. Er hatte keinen der Stifte benutzt, die immer noch halb gespitzt in dem kleinen roten Lederbecher gestanden hatten.
Er studierte Geschichte an der Sorbonne, aber nach kurzer Zeit merkte er, dass er sich nur für den Teil seines Fachs interessierte, der auf dem Wasser
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