34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
stattfand, alles andere ließ ihn merkwürdig kalt. Er verschlang alles über die Seefahrt und die großen Schiffbrüche, über die maritimen Handelsrouten, den Walfang und die Entstehung des Windes; er konnte nicht genug bekommen von Texten über Fischzucht, Korallenriffe und Meeresmythen. Und je mehr er las, desto grundlegender wurde sein Interesse. Bald fing er an zu untersuchen, inwiefern das Meer als Ganzes die Menschheit prägt und welche Rolle es in der Entwicklung der Zivilisation, der Weltpolitik, aber auch in der Vorstellungskraft der Menschen spielt. Er suchte nach Gleichgesinnten und gründete einen Vorläufer der heutigen Nautical Archaeology Society .
Doch dann merkte er, dass seine Mitstreiter aus den Augen verloren, worum es eigentlich ging; sie spezialisierten sich und lernten alles über die Entwicklung globaler Handelsnetze, über die Besonderheiten der Quallen oder über den englischen U-Boot-Krieg. Und sie vergaßen dabei, das Meer als vollkommen abgerundetes Kunstwerk zu verstehen, als etwas, das alles in sich trägt, nichts vermisst und nichts vermissen lässt. Aber niemand schien verstehen zu wollen, was er meinte. Außer Nietzsche natürlich. Also trat Horowitz aus der von ihm gegründeten Vereinigung wieder aus und beschloss, sofort nach dem Ende seines leidigen Studiums zur See zu fahren, um dem Geheimnis des Meeres auf die Schliche zu kommen.
Bis es so weit sein sollte, las er die großen Meeres-Romane und hatte dabei stärker als sonst das Gefühl, dem Meer nahe zu sein: Vernes 20000 Meilen unter dem Meer , Melvilles Moby Dick und Conrads diverse Erzählungen. Stunden und Tage verbrachte er mit dieser Lektüre in seiner Dachkammer, während sich seine Tante im unteren Stockwerk ihrer Trauer hingab und an Kissen stickte, in die sie ihre nächtlichen Tränen weinen konnte.
Als er das Studium dann mehr recht als schlecht beendet hatte, beschloss er, Paris zu verlassen, auf Jacques-Yves Cousteaus Boot anzuheuern und dort das Meer zu begreifen. Cousteau würde gewiss nichts dagegen haben, einen Mann an Bord zu haben, der sich keine Sauerstoffflasche umschnallen musste, um ins Meer einzutauchen. Doch all seine Briefe an Cousteau blieben unbeantwortet. Um nicht länger auf dem Trockenen zu sitzen, musste er also anders auf See kommen, und so buchte er erst einmal eine Kreuzfahrt auf der legendären Queen Mary. Doch dann verstarb seine Tante ganz unerwartet, und er musste sich um das Erbe kümmern, die Pariser Wohnung auflösen und für die Berliner Wohnung einen Mieter finden. In Berlin beschloss er, die Wohnung doch nicht zu vermieten, sondern dort seine Basis einzurichten und auf eigene Faust ein Forschungsschiff samt Crew zu organisieren. Geld hatte er nun ja genug.
Und erst jetzt, in diesem Moment, als er in Ellas Wohnung stand, wurde ihm klar, dass er mit Ella nicht nur seine Wohnung getauscht hatte, sondern einen Bogen geschlossen hatte, der mit dem Auszug aus Paris und dem Einzug in Berlin begonnen hatte.
»Hallo«, sagte nun eine helle Frauenstimme hinter ihm.
Horowitz bekam einen Schreck und hielt sich die Hand vor den Mund, als hätte er laut vor sich hin gesprochen. Hinter ihm kam eine blondierte, rundliche Frau mit grau-blonden Locken und herausforderndem Blick die Treppe hinaufgestiefelt.
»Hallo?«
»Hallo«, wiederholte die Frau und blieb stehen.
Horowitz musterte die Frau, sie war attraktiv, vielleicht Mitte fünfzig, nicht sein Typ (die Drallen hatten ihm immer Angst gemacht), aber sehr attraktiv.
Die Frau schaute ihn an. Er sollte jetzt wohl etwas sagen. Sie standen sich gegenüber.
»Wollen Sie zu mir?«, fragte er zögerlich.
»Nein«, sagte sie und zog ihre lindgrünen, bestickten Handschuhe aus, »ich wollte zu Ella Rot. Ist sie da?«
»Ach so, nein, sie ist… Darf ich mich erst mal vorstellen? Horowitz«, sagte er und deutete eine Verbeugung an. Das war deplatziert, aber heute war nun mal ein deplatzierter Tag.
»Horowitz?«, fragte die Frau.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke: »Sind Sie Ellas Mutter?«
»Sieht man das?«, fragte sie und steckte ihre Handschuhe in eine winzige Handtasche, die mit zwei Kupferkugeln verschlossen war.
»Nein«, sagte er, »überhaupt nicht.«
»Ach so«, sagte sie und nahm nun zwei Kämme aus ihren Locken, goldene Kämme mit vielen kleinen Glitzersteinen, und ließ sie in die Tasche ihres Samtmantels gleiten. »Ja, ich bin Ellas Mutter, nennen Sie mich Sibylle, wenn Sie wollen. Und Sie? Sie sind nicht Ellas Vater, wenn ich
Weitere Kostenlose Bücher