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34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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nur um Georg, es ging auch um etwas anderes. Er konnte sich schlichtweg nicht eingestehen, dass er ein Mann war, der die Mutter seines Sohnes nie geliebt hatte. Das konnte er mit seinem Selbstbild nicht vereinbaren.
    »Können wir ein bisschen hochgehen?«, fragte Ella.
    »Hoch?«
    »In die Wohnung«, sagte Ella.
    »Klar«, sagte Paul, sperrte den Laden ab und ging mit Ella in seine Wohnung. Vielleicht half das.
    Oben angekommen, verschwand Paul in die Küche, um Ella einen Tee zu kochen. Ella legte sich auf sein Bett und sah sich um. Alles noch wie gestern. Das Bett auf dem Boden, die achtlos aufgehängten, wollweißen Vorhänge, der Stapel zerlesener Zeitungen in der Ecke, die Wand mit den unzähligen gerahmten Bildern, den großen, bunten Comics und den kleinen Bleistiftzeichnungen, alles wie gestern. Nur die Fraglosigkeit war verschwunden. Paul kam mit einer dampfenden Tasse Tee, einem Glas Honig und einem Blick zurück, den Ella nicht deuten konnte. Er schraubte das Glas auf und löffelte einen Löffel Honig nach dem anderen in den Becher, als wollte er sie versüßen. Sie rührte ihn nicht an.
    Paul stellte den Tee zur Seite, beugte sich über sie und schaute sie forschend an. Sie konnte seinen Blick immer noch nicht deuten. Sie rutschte zur Seite und machte ihm Platz.
    Paul legte sich zu ihr, und sie begann ihn mit geschlossenen Augen auszuziehen, als wäre das der Lauf der Dinge; und als seine Kleider neben dem Bett auf dem Boden lagen, begann er sie auszuziehen, ebenfalls mit geschlossenen Augen. Ella sah, wie Paul ihre Bluse aufknöpfte, den Gürtel löste, den Reißverschluss aufzog. Sie wusste nicht, warum er es tat, aber er tat es, und ebenso wenig wusste sie, warum sie es getan hatte, aber sie hatte es getan. Vielleicht zogen sie sich aus, um sich der Windstille zu entreißen, die sich mehr und mehr im Raum ausbreitete und kein Fortkommen zuließ.
    Sie ließ sich küssen, ihren Nacken, ihre Halskuhle, ihre Brust, ihren Schoß, und sie erwiderte seine Küsse. Wahrscheinlich küssten sie sich beide, weil sie sich nicht verabschieden konnten, noch nicht, nicht nach einer gemeinsamen Nacht, nicht so früh; nicht, wenn noch so vieles möglich schien. Nur, wenn sie sich jetzt nicht verabschiedeten, dann würde sich der Abschied über die nächsten Monate hinziehen; eingeläutet war er, und das Läuten dröhnte in ihren Ohren.
    Paul kniete jetzt über ihr, drang in sie ein und bewegte sich heftig auf und ab. Sie gab ihm kein Zeichen, dass er damit aufhören sollte, weil sie es auch wollte, um sich wiederzufinden, vielleicht.
    Doch als es vorüber war, legten sie sich nebeneinander und hatten keine Ahnung, ob sie sich gerade wiedergefunden hatten. Das Läuten war verklungen, es war jetzt ganz still. Was das zu bedeuten hatte, wusste sie nicht. Nach einer Weile schloss sie die Augen und tat so, als wäre sie eingeschlafen. Er strich ihr übers Haar und ging dann zurück in seinen Laden.
    Ella öffnete die Augen, blieb aber noch eine Weile auf Pauls Bett liegen. Die Verbindung zu dem, was gerade geschehen war, war gekappt, der Film war gerissen, und die losen Enden flogen schwerelos durch die Luft. In ihr war nichts mehr, nichts bewegte sich mehr, vollkommene Windstille. Sie bekam Angst. Raus hier! Raus aus diesem Haus! Ella lief die Treppen herunter und aus dem Haus auf die Straße. Draußen war helllichter Tag. Ella schaute einmal nach rechts und nach links. Junge Männer liefen mit Kaffeebechern herum und telefonierten, junge Mütter schoben ihre Kinderwagen durch die Gegend. Dann rannte sie los.

13
    »Lassen Sie mich hier an der Ecke raus«, sagte Horowitz zum Taxifahrer. Chaussee- Ecke Torstraße. Es waren noch ein paar Straßen bis zu Ellas Wohnung, aber die wollte er laufen, seinen Seesack über die Schulter gehängt. Die Chausseestraße war nicht gerade eine Flaniermeile, sie war da, um von einem Teil der Stadt in den anderen zu führen. Horowitz ging an einem Thai-Massagesalon vorbei, einem Sanitätsfachhaus und einem Optiker, in dessen Schaufenster ein Bild von Woody Allen hing. Auf der anderen Straßenseite lag der wunderbare Dorotheenstädtische Friedhof, den er ganz vergessen hatte. Brecht, Weigel, Hegel, Fichte, Minetti waren hier begraben. Direkt neben dem Friedhof stand das Brechthaus. Sollte er die Straßenseite wechseln? Der Friedhof war ihm weitaus sympathischer als das Sanitätshaus mit seinen Massagebällen und Stützstrümpfen. Auf der rechten Seite tauchte ein Brautmodenladen auf. Die

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