34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
diesem Abend wollte er dann nicht nach Hause, weil er eben ein Geheimnis haben wollte. Oder so. Es ist mir alles nach wie vor ein Rätsel. Aber eine andere Frau war es wohl nicht.«
»Keine andere Frau«, sagte Ella und sah das fassungslose Gesicht ihrer Schwester vor sich. Natürlich glaubte sie ihm diese Geschichte nicht; sie hätte ihm eine andere Frau geglaubt, eine alte Liebe, vielleicht sogar einen Mann, aber nicht einen Abend. Das nicht.
»Aber weißt du, was ich am allerwenigsten verstehe?«, fuhr Jasmin fort. »Warum ihr eure Geheimnisse nicht einfach habt und mit ihnen lebt? Warum ihr euch dafür immer aus dem Staub machen müsst? Warum muss man um ein Geheimnis so ein Trara machen? Als ob es immer nur darum ginge, ein Geheimnis zu haben – egal, was für eins – und das dann allen unter die Nase zu reiben, indem man wegrennt. Wenn ich ein Geheimnis habe, dann hab ich eben eins. Dafür brauche ich doch keinen Abend.«
Ella schaute Jasmin mit wachsendem Interesse an.
»Ich meine…«, sagte Jasmin, stand auf und ging neben dem Bücherregal auf und ab, »natürlich habe ich auch meine Geheimnisse, aber die habe ich, weil sie geheim bleiben müssen, nicht, weil ich es spannend finde, dass sie geheim sind. Ich muss sie nicht inszenieren, sodass andere wissen, dass ich ein Geheimnis habe. Das ist doch absurd.«
Ella traute ihren Ohren kaum. Ihre Schwester hatte Geheimnisse?
»Und natürlich habe ich mir auch lange gewünscht, dass mir ein Scheich die Welt zu Füßen legt, aber ich lasse mir doch nicht den ganzen Tag vermiesen, nur weil es mal keine Wachteln regnet.«
Ella reagierte immer noch nicht, sie wollte Jasmin nicht unterbrechen, hatte das Gefühl, Jasmin hätte noch mehr zu sagen.
»Meine Krankheit hab ich ja auch nicht gleich jedem auf die Nase gebunden.«
»Du bist krank?«
»Siehst du? Du hast es eben nicht gemerkt, weil es mein Geheimnis war. Wenn man ein Geheimnis hat, dann sorgt man dafür, dass es auch so bleibt.«
»Was…?«, stotterte Ella. »Was hattest du denn?«
»Einen Tumor hatte ich, nach meiner ersten Schwangerschaft, aber der ist weg, den haben sie rausgeschnitten, und jetzt habe ich was anderes, vor zwei Tagen erst haben sie es mir gesagt, und keiner weiß, was es ist. Und keiner weiß, dass ich’s hab…«
»Oh, Gott, Jasmin, das tut mir ja so leid, ich wusste ja nicht, dass du…«
»Schon gut, keiner weiß es.«
»Nicht mal Leo?«
»Der schon gar nicht, der macht sich sonst viel zu große Sorgen.«
»Aber…«
»Glaub mir, von dem Tumor hatte ich ihm erzählt, und das war ein Fehler. Zum Schluss musste ich mich noch um ihn kümmern, weil er vor Sorgen fast umgekommen wäre. Deswegen erzähl ich ihm diesmal besser nichts. Vorerst jedenfalls…«
»Und was… wo war denn der Tumor?«
»Über den spreche ich nicht mehr, der ist weg, und ich werde ihm keine Träne nachweinen.«
»Ach so«, sagte Ella, »aber…«
In Ellas Kopf schwirrte es.
»Lass es einfach gut sein, das ist vorbei. Ich kann da wirklich nicht mehr drüber reden. Diese stundenlangen Gespräche mit Leo…«
»Aber warum hast du mir nie was erzählt?«
Jasmin winkte ab: »Dir? Ella, komm, dir konnte ich doch jahrelang nichts erzählen! Was sollte ich dir denn anvertrauen? Alles hast du immer gleich weitererzählt – auch unserer Mutter, gerade der. Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem ich ihre geheimen Flaschendepots leer geräumt habe, selbst das hast du ihr erzählt.«
»Es war doch klar, dass wir das waren«, sagte Ella.
» Ich , Ella. Aber darum geht es nicht. Wir hatten ausgemacht, dass wir es nicht verraten. Aber du bist eben so, es sprudelt nur so aus dir raus. Du dachtest, unsere Mutter hätte uns gar nicht böse sein können. Aber wie dem auch sei – damals hab ich mir geschworen, dir nichts mehr zu erzählen, bis du erwachsen bist. Und jetzt, jetzt hast du deine erste Arbeitswoche hinter dir und siehst traurig aus und brauchst mich und bist vielleicht endlich erwachsen geworden. Und deswegen kann ich dir heute…«
Plötzlich fing Jasmin an zu weinen. Und sie weinte nicht, wie andere weinten – aus einem Guss –, sie weinte wie ein stotternder Motor, wie ein Auto ohne Benzin, mit großen Pausen zwischen den Schluchzern und einem rostigen Unterton. Ella traute sich kaum, zu ihr zu gehen, tat es dann aber doch und legte einen Arm um ihre Schulter. Jasmin machte sich los und stellte sich ans Fenster.
»Und die Kinder?«, schluchzte Jasmin. »Was machen sie, wenn jetzt
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