34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
Trauerspiel.«
»Schön, dass Sie darüber lachen können. Vorhin dachte ich für einen Moment, Sie wären verzweifelt…«
»Ich bin verzweifelt«, sagte Horowitz und schmunzelte erneut.
»Ja, da haben Sie recht, vielleicht ist man in unserem Alter immer ein bisschen von beidem: verzweifelt und heiter, heiter und verzweifelt. Nur meine ältere Tochter ist nichts davon, sie ist immer gleich. Aber über die reden wir ja gerade gar nicht. Und wissen Sie was? Wenn aus Ihren Träumen nichts geworden sein sollte, dann haben wir was gemeinsam. Aus meinen Träumen ist nämlich, wenn ich ehrlich bin, auch nie wirklich was geworden, aber gelebt habe ich sie und sie niemals verdammt. Ich brauche meine Träume, sonst wäre das Leben doch trüb. Ella ist übrigens genauso. Ich weiß ja nicht, wie gut Sie Ella schon kennen, aber das mit den Träumen hat sie von mir… Sie hat so vieles von mir, wirklich vieles…. Warum sperrt sie mich nur so aus ihrem Leben aus? Kinder können einen ins Mark treffen. Haben Sie Kinder?«
Horowitz schüttelte den Kopf.
»Sie hatten ja das Meer«, sagte Sibylle. »Warum eigentlich das Meer?«
»Das Meer«, Horowitz dachte nach: »beinhaltet alles, was mich je fasziniert hat: die Unendlichkeit, die Tiefe, das Geheimnis und das Fernweh. Und jedes Meer hat seinen eigenen Charakter. Der Pazifik liegt mir am nächsten, seine Einsamkeit und Weite, sein tiefes Blau. Er ist ganz anders als der inselbesäte Atlantik, anders als der mysteriöse Indische Ozean und nahezu das Gegenstück zum lieblichen Mittelmeer. Für mich gab es immer nur das Meer. ›Auf die Schiffe, Philosophen!‹ hat der alte Nietzsche gerufen, und recht hatte er. Wer was übers Sein verstehen will, der muss aufs Meer, hat er gesagt, glaube ich, oder vielleicht hab ich das auch mal gesagt. Wie auch immer. Mein ganzes Leben hat es mich gelockt, es hat mich gerufen und verführt.«
»Und haben Sie sich verführen lassen?«
»Nun ja«, sagte Horowitz. »Kennen Sie die Geschichte der Vasa, des schwedischen Prachtschiffs, das bereits im Hafen sank?«, fuhr er fort.
Sibylle schüttelte den Kopf.
»Die Vasa lichtete im August 1628 die Anker, und schon auf den ersten Metern geriet es in eine bedrohliche Schräglage. Dabei war kaum Wind. Der erste stärkere Windstoß ließ sie dann kentern. Die Fahrt der Vasa dauerte nur etwa zwanzig Minuten.«
»Und warum erzählen Sie mir das?«
»Hm«, sagte Horowitz.
»Ich kenne Sie ja noch gar nicht, aber Sie sehen mir aus wie einer dieser Perfektionisten, die erst dann loslegen, wenn die Vorbereitung perfekt ist. Aber eins kann ich Ihnen sagen: Das ist sie nie! Und wissen Sie, warum? Weil man sich auf manche Dinge gar nicht vorbereiten kann. Vielleicht sind Sie auch einfach zu streng mit sich? Ich kann das gar nicht verstehen, wieso alle immer so streng mit sich sind. Was ist denn Scheitern anderes als die Interpretation einer Geschichte, die man auch hätte anders erzählen können? Ich bin auch nicht mehr streng mit mir, weil es nichts bringt. Wenn mich was lockt, dann versuche ich es, und wenn es nicht klappt, dann scheitere ich eben. Das nehme ich mir doch nicht übel. Vorher wissen, ob’s was wird, kann man doch sowieso nicht. Also bin ich mein ganzes Leben lang von einem Flop in den nächsten getanzt. Und wissen Sie was?« Sie senkte die Stimme. »Und das ist ein großes Geheimnis!« Dann sprach sie in normaler Lautstärke weiter: »Ich finde gar nicht, dass ich gescheitert bin, auch wenn nicht viel übrig geblieben ist: kein Lebenswerk, kein Mann, kein Geld und zwei Töchter, die sich für mich schämen. Nicht gerade berauschend, was? Aber meine Träume, die sind so prachtvoll wie eh und je, die nimmt mir keiner. Wenn ich’s mir recht überlege, scheitere ich eigentlich ganz gern.«
Horowitz schaute sie an.
»Kennen Sie das Gefühl nicht? Vom Meer, vom Blick auf diese Endlosigkeit? Wenn man scheitert, macht man doch eine unmittelbare Erfahrung. Auf eine unergründliche Art verbindet mich das Scheitern mit etwas, ja, wie soll ich das nennen…, mit etwas Unendlichem, etwas, das ich sonst nicht erlebe.«
Der Wein kam, Horowitz trank einen Schluck, Sibylle wechselte ohne Unterbrechung ins Arabische, um sich mit dem Kellner zu unterhalten.
»Hab uns was bestellt«, sagte Sibylle, als der Kellner gegangen war, »verschiedene Vorspeisen. Ich hoffe, das ist Ihnen recht?«
Horowitz nickte.
»Wo waren wir?«, fragte Sibylle.
»Beim Scheitern«, sagte Horowitz.
Sibylle lachte, dann fuhr
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