34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
wirklich wieder was Schlimmes sein sollte? Es soll ja nichts Schlimmes sein, die Ärzte sagen, es wäre höchstwahrscheinlich nichts Schlimmes, aber langsam weiß ich nicht mehr, ob das stimmt. Meine Blutwerte…«
»Das wird wieder«, sagte Ella, »bestimmt, das wird wieder.«
Jasmin hörte genauso abrupt auf zu weinen, wie sie angefangen hatte, und ging zurück zum Sofa. Als sie an Ella vorbeikam, legte sie ihr kurz die Hand auf den Oberarm.
»Du hättest mir unbedingt davon erzählen sollen«, sagte Ella, »ich hätte dir doch helfen können.«
»Ich hab’s dir doch gerade erklärt, Ella. Du hättest es unserer Mutter erzählt, irgendwie wär’s dir rausgerutscht, um mich für sie interessanter zu machen oder warum auch immer.«
»Und ich dachte immer, du wärst unbesiegbar…«, sagte Ella leise, wie zu sich selbst.
»Weil du mich nie angeschaut hast«, sagte Jasmin. »Aus irgendeinem Grund hast du mich in eine Schublade gesteckt und holst mich da nicht mehr raus. Aber das macht nichts, du hattest genug um die Ohren mit deinem eigenen Leben. Ich mach dir da keine Vorwürfe! Musst ja ganz schön strampeln mit unserer Vorgeschichte, die dich ja viel mehr tangiert hat als mich. Wenn du dir keine anständige Arbeit gesucht hättest und weiter so rumgelebt hättest – dann hätte ich dir Vorwürfe gemacht, aber das mit der Schublade, das ist schon in Ordnung, damit kann ich leben.«
Die beiden schauten sich an.
Ella stiegen die Tränen in die Augen. Jetzt bloß nicht weinen!
»Aber jetzt hab ich nur von mir geredet, dabei wolltest du mir doch etwas erzählen. Du klangst vorhin so traurig«, sagte Jasmin mechanisch und gedankenverloren.
Ella schluckte die Tränen herunter und sagte leise: »Nein, nein, schon gut.«
»Erzähl ruhig«, sagte Jasmin und schneuzte sich die Nase. »Du tust mir einen Gefallen damit.«
Ella schüttelte den Kopf: »Ich kann nicht…«
»Bitte, Ella, weißt du, ich fühle mich blöd, wenn ich die Einzige bin, die traurig ist.«
Ella gab sich einen Ruck und begann zu erzählen: »Es geht um Paul. Na ja, eigentlich geht es nicht wirklich um Paul, sondern darum, wie ich mit schwierigen Situationen umgehe, mit Krisen…«
»Na ja: das ist doch einfach zu beantworten: gar nicht«, sagte Jasmin. »Tut mir leid, das zu sagen, aber es war schon immer so: Wenn’s brenzlig wurde, bist du abgedampft und hast dich versteckt, mal unter der Decke, mal hinter einem Buch, mal hinter einem Lachen, aber wirklich auseinandergesetzt hast du dich nie.«
»Ich…?«
»Und wenn ich jetzt so darüber nachdenke: Ich dachte immer, ich wäre die mit der Fassade. Und ich hab ja auch eine, aber meine tut wenigstens nicht so, als wäre sie keine.«
Ella schluckte. Sie hatte keine Fassade, das war doch keine Fassade. Fassade war das falsche Wort.
»War das jetzt schon wieder falsch?«
»Nein, nein«, sagte Ella leise, »ich glaube nur, dass ich gar keinen Ort in mir habe, vor den man eine Fassade bauen könnte.«
»Sondern?«
»Ja, wenn ich das wüsste.«
Jasmin nahm die Muschel in die Hand, die auf dem Sofatisch lag, und drehte sie hin und her.
»Kann ich dich was fragen, Jasmin?«
Jasmin nickte.
»Glaubst du, dass ich mir was vormache, dass ich mir das Leben schönrede? Wenn das Leben nur das ist, was ich daraus mache, dann ist Schönreden vielleicht gar kein Problem, dann ist es vielleicht sogar das Beste, was man machen kann; aber wenn es doch noch ein anderes Leben gibt, eines, in dem es Wahrheiten gibt, die mit meiner Sicht der Dinge nichts zu tun haben, dann verstelle ich mir das Leben, indem ich es mir schönrede, dann lebe ich daran vorbei – und das ist das Letzte, was ich möchte.«
Auf Jasmins Stirn wurde nun eine breite Falte sichtbar. Sie legte die Muschel zurück auf den Tisch und antwortete: »Ich kann einfach nicht verstehen, warum du überhaupt so viel darüber nachdenkst. Da bist du wie unsere Mutter, die hat auch andauernd über ihr Leben nachgedacht, nur dass sie stolz darauf war: die große Selbstverwirklichung! Darum geht es ja bei dir zum Glück nicht, das haben wir hinter uns. Ich bin vielleicht sogar noch eher wie unsere Großmutter. Das Leben lebt mich, und ich folge. Und ich bin heilfroh, dass es nicht andersherum ist, das kann ich dir sagen. Vielleicht hat das auch was damit zu tun, dass ich die Ältere bin, für mich ist das normal. Das Leben ist für mich Tag und Nacht, Glück und Pech, aber sicher kein philosophisches oder was auch immer für ein Problem, es ist
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