34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
meine Mutter schwieg. Sie schwieg so eisern, dass sie nicht einmal aufhörte, sich zu schminken oder zu lesen, wenn wir sie darauf ansprachen. Vollkommen gelassen blieb sie dabei. Früher dachte ich, sie schwieg, weil sie Angst hatte, wir würden sie verlassen, wenn wir unseren Vater kennenlernten, aber vielleicht schwieg sie auch nur, weil sie sich für ihn schämte oder weil sie es tatsächlich nicht wusste. Ein Scheich als Erzeuger war eher unwahrscheinlich. Wir sehen beide nicht so aus, als wären wir zwischen arabischen Seidenkissen gezeugt worden. Außerdem war unsere Mutter, in dieser Hinsicht jedenfalls, lebenstüchtig genug, um sich eine solche Gelegenheit versilbern zu lassen.«
»Und dann?«, fragte Horowitz.
»Dann war es vorbei mit den Scheichs.«
»Und jetzt?«
»Horowitz?«, fragte Ella.
»Ja«, sagte er.
»Vergessen Sie es«, sagte Ella. »Meine Mutter frisst Sie mit Haut und Haar.«
»An mir ist nichts dran«, sagte Horowitz.
»Das müssen Sie mir versprechen.«
»Dass an mir nichts dran ist?«, fragte Horowitz.
»Bitte«, sagte Ella, »ich kann meine Mutter nicht wieder in mein Leben lassen.«
»Gut«, sagte Horowitz, räusperte sich und fragte dann: »Und Ihr Freund? Von dem haben Sie noch nie was erzählt. Taugt er denn was?«
Ella schwieg.
»Ella? Sind Sie noch da?«
Ella schwieg immer noch.
»Das klingt nicht gut«, sagte Horowitz, »das, was Sie da nicht sagen, klingt nicht gut.«
»Auf bald«, sagte Ella, legte auf und dachte: Und das, was Sie gerade nicht gesagt haben, klingt auch nicht gut.
Ella wanderte noch einmal durch die Wohnung. Und plötzlich wusste sie, woran der Speisesaal und der »große Salon« sie erinnerten: an Kapitän Nemos Nautilus . Der Speisesaal der Nautilus, in dem Nemo den schiffbrüchigen Meeresforscher, Professor Aronnax, die kulinarischen Reichtümer des Meeres servieren ließ, glich Horowitz’ Esszimmer bis ins Detail; und auch der »große Salon« mit seinen Meeresfundstücken und überladenen Bücherregalen musste Jules Vernes U-Boot-Vision nachempfunden worden sein. Vielleicht war Horowitz wie Nemo in dieser Wohnung vor der Welt geflohen? Und wenn ihr nicht das Gleiche passieren sollte, dann musste sie jetzt zu Paul. Ob sie sich über den Weg traute oder nicht; ob sie Angst vor dem Ungewissen hatte oder nicht; ob sie Angst hatte zu scheitern oder nicht. Sie rief Paul an, der sie sofort mit Fragen bombardierte. Sie sagte nur: »Gleich!« und fuhr los.
Sie klingelte, Paul öffnete die Wohnungstür, griff sie wortlos an beiden Oberarmen und zog sie hinein, als müsste sie vor unsichtbaren Verfolgern versteckt werden. Auf genau eine solche Begrüßung hatte sie gehofft. Er roch wie vorher und küsste wie vorher.
Dann schob er sie von sich weg und fragte: »Wo warst du, Ella? Eine ganze Woche…! Du hast auf keinen meiner Anrufe reagiert. Wo warst du?«
»Hallo«, sagte sie und musste lachen, obwohl sie eigentlich nicht lachen wollte, weil es ja eigentlich nicht zum Lachen war.
»Da bist du ja endlich wieder«, sagte er.
»Jein«, sagte sie ein bisschen distanziert, aber ihre Freude war einfach nicht in den Griff zu bekommen.
Paul strich mit den Daumen über die Druckstellen auf ihren Oberarmen und schaute auf den Boden.
»War nicht so schlimm«, sagte sie.
»Was?«, fragte er.
Dann wollte er mit seinen Händen ihr Gesicht greifen, aber er brach ab.
»Komm rein«, sagte er stattdessen. »Zieh dich erst mal aus, bevor wir reden.«
Da musste Ella schon wieder lachen. Sie gab ihm ihren Regenmantel. Da lachte auch er.
Nun standen sie sich gegenüber und schauten sich an.
Und für einen kurzen Moment war alles klar.
Dann gingen sie hintereinander in die Küche.
»Willst du gar nicht mit mir reden?«, fragte Paul, ohne sich umzudrehen, und seine Frage traf fast den richtigen Ton.
Sie legte ihre flache Hand auf seinen Rücken. Und ihre Berührung wäre fast die richtige Berührung gewesen.
Schnell drehte er sich um, und sie drückten sich aneinander: Schulter an Schulter, Brust an Brust, Hüfte an Hüfte.
»Hast du ein Glas Wein?«, fragte sie, als sie sich wieder lösten, und er entkorkte eine Flasche und nahm zwei Gläser aus dem Regal.
Doch als sie zusammen tranken, floss der Wein in zwei getrennte Kehlen und schmeckte nicht so wie beim letzten Mal. Sie versuchten es mit einem Kuss. Dann versuchten sie es mit einem weiteren Kuss und noch einem und dann noch einem, bis sie nicht mehr recht wussten, ob die Küsse halfen oder
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