34° Ost
während der türkischen Christenverfolgungen getöteten Mönche gesammelt und die meisten davon an den würdigsten Ort gebracht hatte: in das Beinhaus, bewacht von der Mumie des heiligen Stephanos, der an der Pforte saß.
Man hatte geglaubt, dass die Grabkammern eines Tages zu einer weiteren Sehenswürdigkeit des Klosters werden könnten. Gesäubert, restauriert und beleuchtet, hätten sie eine Gedächtnisstätte ergeben, so wie der Garten des brennenden Dornbusches oder die Quelle, an der laut biblischer Überlieferung Moses zum ersten Mal den Töchtern Jethros begegnet war. Aber die Teilung Sinais unterband den Zustrom von Touristen und verhinderte Pilgerreisen. Die Gänge blieben so, wie Bruder Anastasius sie belassen hatte, nur zum Teil freigelegt und noch immer von den morschen Skeletten unbekannter Mönche bevölkert, die er bei seinen Erkundungen – im Lichte einer flackernden Kerze – übersehen hatte.
Den zweiten Zugang zum eigentlichen Beinhaus hatte er mit einer schweren, aber unverriegelten Tür verschlossen. Dorngestrüpp, das an den niederen Einfriedungen der äußeren Gärten wuchs, war über die andere Öffnung der Gänge gewuchert, einst durch eine Steinplatte abgedeckt, nun ein enges Loch, halb verborgen unter dem Gewirr der Zweige.
Da Bruder Anastasius völlig allein gearbeitet hatte und seine Tätigkeit vorzeitig aufgeben mußte, waren die miteinander verbundenen Gewölbe auf keinem Plan und keiner archäologischen Lageskizze eingezeichnet.
Hinter die Mauer geduckt, hatten Soldaten des amerikanischen Kontingents das Dickicht vor dem Einstieg so weit weggehackt, dass Tate und Robinson, in verstaubte schwarze Kutten gehüllt, sich hinunterlassen konnten.
»Hier ist die Öffnung zur ersten Krypta. Für sie wird es verdammt eng werden, Sergeant«, sagte Tate.
Robinson, der sich an die senkrechte Wand drückte, um dem General Platz zu machen, erwiderte lakonisch: »Keine Sorge, Sir, ich bin schon hinter Ihnen.« Er warf den Kameraden oben einen letzten Blick zu; ihre Köpfe hoben sich als schwarze Silhouetten vom hellen Himmel ab. Der Sergeant hatte eine heftige Abneigung gegen dunkle enge Räume; die Vorstellung, dass er nun ins Erdinnere kriechen mußte, brachte einen metallischen Geschmack auf seine Zunge. Das Messer im Ärmel, die Pistole im Gürtel und die Lampe, die er um den Hals trug, erschienen ihm als ziemlich wirkungslose Waffen gegen die Mächte der Finsternis.
Ihm war nicht völlig bewußt, dass die Tiefe, in die er sich hineinwagte, Kindheitserinnerungen an Keller in den Mietskasernen der Negerviertel und an quiekende Ratten wachrief. Er merkte nicht einmal, dass er Angst hatte und dass es für ihn eine härtere Mutprobe bedeutete, hinter dem General in die unterirdischen Kammern zu kriechen, als damals das Nachtgefecht zu bestehen, in dem er sich die ›Medal of Honor‹ erworben hatte.
Bill Tate bewegte sich auf Händen und Knien fort, das niedere Gewölbe streifte seinen Rücken. Im bleistiftdünnen Lichtstrahl seiner Lampe sah er Haufen herabgefallener Felstrümmer, manche davon verdeckten die finsteren Winkel der engen Krypta. Einige Sekunden hatte er das beklemmende Gefühl, lebendig begraben zu sein, als ob das Gestein, das über ihm lastete, ihn bald unweigerlich erdrücken würde. Er kroch langsamer vorwärts, da spürte er auch schon Robinson dicht hinter sich und hörte den schwarzen Riesen flüstern: »Stimmt was nicht, Sir? Ist der Weg blockiert?«
Tate überwand seine Platzangst und antwortete mit einer ihm selbst fremden Stimme: »Nein, alles in Ordnung, Crispus. Ich verschnaufe nur.«
Er schob sich weiter, nun wehte ihm der Staub ins Gesicht, den er mit seiner Kutte aufwirbelte. Es roch stark nach Moder. Vor sich sah er im schwachen Licht wieder herabgestürzte Felsbrocken, sie bildeten förmlich eine Barrikade. Zwischen dem aufgehäuften Sand, den Steinen und der roh behauenen Decke blieben nicht mehr als etwa zwanzig Zentimeter Raum. Es schien für einen erwachsenen Menschen unmöglich, durch einen so engen Schlupf zu kriechen, ohne steckenzubleiben, aber es gab keine andere Möglichkeit. Hinter dieser Engstelle mußte die zweite Grabkammer liegen, und noch ein Stück weiter die Holztür zum Beinhaus innerhalb der Klostermauern.
Die Decke drückte noch schwerer auf seinen Rücken, während er sich über die schräge Schicht uralten Schutts zwängte. Einen Moment dachte er an die Mönche, die unter unsäglicher Mühsal diese Stollen in den Felsboden
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