34° Ost
breit und relativ höher, so dass die beiden Männer beim Kriechen nur mit dem Kopf die Wölbung streiften.
»O.k. Sergeant?« fragte Tate leise.
»O.k. Sir. Aber suchen wir uns einen anderen Rückweg.«
Dem General kamen die Geschichten über den Golem in den Sinn, die ihm Deborah erzählt hatte, die jüdische Legende von jenem Riesen, den kabbalistische Magier aus Lehm formten und durch einen Thoraspruch belebten, damit er sich den Feinden der Gerechten in den Weg stelle.
Es war nicht die Zeit und nicht der Ort, Betrachtungen über Deborah anzustellen, dennoch vermochte Tate ihr Bild nicht aus seinen Gedanken zu verbannen. Er wußte genau, dass er sein Leben, die geordnete Existenz eines Karrieresoldaten, nicht mehr so weiterführen konnte wie bisher. Seine Einstellung zu Talcott Bailey würde eine unüberbrückbare Kluft aufreißen und eine weitere militärische Laufbahn unmöglich machen. Was blieb also? Wenn es Robinson und ihm gelänge, die Geiseln zu befreien und in Sicherheit zu bringen, und wenn die Welt mittlerweile nicht unterging – was dann, William Tecumseh Sherman Tate? Er sah ganz klar voraus, wie inhaltslos dieses Dasein dann wäre, ohne Karriere und ohne Ziel. Um ein solches Leben zu meistern, brauchte ein Mann irgendeinen Halt, einen Menschen, der zu ihm gehörte. Umgeben von Dunkel, sehnte er sich nach dem Sonnenlicht, und plötzlich kam mit erschütternder Klarheit die Gewissheit, dass es nur einen einzigen Menschen gab, mit dem er in diese schwere Zukunft gehen konnte – wenn der Welt überhaupt noch eine Zukunft beschieden sein sollte –, und das war Deborah Zadok.
»Sir?« flüsterte der Sergeant heiser.
»Ja. Versuchen wir, ob sich die Tür öffnen läßt.« Tate lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die alten Bohlen, aber sie gaben nicht nach.
»Lassen Sie mich probieren, Sir.« Robinson drückte mit den Handflächen dagegen, ein fester Ruck, und kreischend scharrte das trockene Holz über die Steine. In der unterirdischen Stille wirkte das Geräusch erschreckend. Mit angehaltenem Atem warteten die beiden Männer, ob sich in der Kammer dahinter etwas regte.
»Los, Crispus«, flüsterte Tate.
Gebückt schlich er durch die niedere Tür in einen mit Lehmziegeln ausgekleideten Gang. Von irgendwo oben kam der Geruch von Weihrauch und Kerzenwachs. Sie waren im Beinhaus angelangt. Eine kurze gemauerte Treppe führte auf einen schwachen Lichtschimmer zu. Tate blieb stehen und zog den Revolver. Robinson spannte die Muskeln. Der Geruch der Kutten, die sie trugen, drang ihnen in die Nasen, muffig von Alter und Schweiß. »Los, 'rauf!« flüsterte Tate.
Sie stiegen die kurze Treppe empor und fanden sich im eigentlichen Beinhaus. Es war eine Halle mit Gebälk aus behauenen Baumstämmen, die ebenso versteinert wirkten wie die Holztür. Durch knapp unter dem Dach angebrachte Fenster fiel spärliches Licht in den Raum. In offenen Nischen entlang den Wänden lagen Haufen modriger Knochen und grinsender gelblicher Schädel.
»Jesus«, hauchte Robinson, »noch mehr davon!«
»Los, weiter!« Tate ging zu dem kleinen Vorraum, dessen Tür zum inneren Garten führte. Am Türpfosten blieb er horchend stehen. Der einzige Laut, den er hörte, war das ständige Knattern des Dragonfly-Hubschraubers, der noch immer vor dem Berg auf und ab flog. Tate winkte Robinson, und der riesige Neger stand mit einem Satz neben ihm im Vorraum. Dann erstarrte er plötzlich. Mit erhobener Waffe sprang ihm Tate nach. Fast hätte er auf die Gestalt geschossen, die beim Tor saß. Dann erkannte er, dass er die legendenumwobene Mumie des heiligen Stephanos vor sich hatte, den Hüter des Beinhauses. Das pergamentene Antlitz war demütig gesenkt, um den schmalen Schädel war ein weißes Kopftuch geschlungen. Der Heilige trug das Kleid der höchsten Mönchswürde, purpurschwarz, steif vor Alter. Unter dem Saum ragten die nackten vertrockneten Zehen des Märtyrers hervor.
Gebannt blieb Robinson vor dieser Erscheinung stehen und starrte sie an, bis ihn Tate weitertrieb. Die beiden verließen das Beinhaus und gelangten in eine kleine Tamariskenpflanzung. Prüfend überblickte der General die umliegenden Bauten. Nirgends eine Spur der Guerillas. Die Sonne stand bereits höher, sie fiel über die Klostermauer und zeichnete scharfbegrenzte schwarze Schatten auf den Boden. Zur Rechten erhob sich das Andachtsgebäude. Tate verglich die Lageverhältnisse auf dem Plan und entschloß sich, einen Vorstoß über die schmale offene
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