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34° Ost

Titel: 34° Ost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Coppel Alfred
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sitzen. Der Angriffskode für diese vierundzwanzig Stunden war ein Zitat aus einem Gedicht Ezra Pounds, dessen Werke in der Sowjetunion natürlich nicht veröffentlicht wurden. Wie so viele Sowjetbürger liebte auch Morosow Lyrik, und er hatte sich oft gewünscht – wenn auch vergeblich –, ungehindert die Gedichte des angeblich verrückten Amerikaners zu lesen. Doch nun würde er nie mehr Gelegenheit dazu haben. In fünfzehn Minuten würden sechs Atomraketen in den Polarhimmel aufsteigen und sich weitere neunzig Minuten später den USA von der offenen südlichen Flanke her nähern, um von einem sowjetischen Trawler in den zentralamerikanischen Gewässern auf sechs Großstädte gelenkt zu werden. Marschall Morosow überlegte, wie viele Exemplare der ›Pisan Cantos‹ Ezra Pounds bei diesem gigantischen Feuerschlag wohl verbrennen würden …
    Laut knatternd näherten sich die Transporthubschrauber mit den Marines an Bord von Norden her. Sie hielten im Tiefflug auf das Tal vor dem Kloster zu, in Richtung auf das Wadi el Deir, wo das Terrain für die Bereitstellung der Einheiten am günstigsten war. Die Soldaten landeten gefechtsmäßig, sie sprangen zur Erde, während die Maschinen noch knapp über dem Boden schwebten, und verteilten sich rasch hinter alle erreichbaren Deckungen. Dann bildeten sie eine Schwarmlinie und gingen durch das Wadi vor, in der deutlich erkennbaren Absicht, sogleich das Nordtor des Klosters zu erstürmen.
    Captain O'Neill, der Befehlshabende von General Tates Special-Forces-Detachment, trat ihnen entgegen und rief: »Halt!« Aber der Bataillonskommandeur der Marines, der schon darauf vorbereitet war, was von den Offizieren des amerikanischen Kontingents zu gewärtigen sein würde, überhörte völlig den Ruf und wiederholte sogar den Angriffsbefehl. Wenige Minuten später hatte ein Stoßtrupp der Marines das Nordtor erreicht und deckte sich dort gegen mögliches Abwehrfeuer der Verteidiger. Doch der Widerstand erschöpfte sich zunächst darin, dass vier Männer mit Keffijehs über die Mauer liefen und die Soldaten beim Tor unter Beschuss zu nehmen versuchten.
    Neben dem blauen Air-Force-Hubschrauber stand General Ulanin mit erhobenem Fernglas und beobachtete den einzelnen Guerilla, der bei der Geisel auf der Ostmauer zurückgeblieben war. Bis jetzt hatte der Araber, aus der Entfernung schlank wie ein Knabe und mit schmalem, von dem Keffijeh beschatteten Gesicht, noch nichts unternommen. Aber während Ulanin die beiden Gestalten nicht aus den Augen ließ, begann der junge Araber mit der Mündung seines Karabiners Paul Bronstein näher an den Rand der Mauer zu drängen. Der General senkte das Glas und sah, dass die Marines sich beim Tor festsetzten und dass eine Gruppe über das offene Gelände zu der Stelle lief, wo seine eigenen Leute am Scharfschützengewehr postiert waren.
    Einen Moment erwog er die Möglichkeit, die herankommenden Marines einfach niedermähen zu lassen. Genau das würde Nowotny in einer ähnlichen Situation tun, dachte er. Es wäre die nächstliegende Reaktion angesichts einer bedrohlichen Zuspitzung und der Gefahr, dass der Gegner eine Geheimwaffe erbeuten könnte. Der alte General blickte nochmals zu den zwei Gestalten auf der Mauer, und dann tat er, was er William Tate versprochen hatte. Er erteilte seinen Scharfschützen den Feuerbefehl.
    Das neue Gewehr gab einen seltsam flachen, trockenen Knall. Der Mündungsfeuerdämpfer am Ende des langen Laufs verringerte das Geräusch des Schusses. Aber das Projektil mit der doppelten Fluggeschwindigkeit einer amerikanischen M-16 legte die Distanz von eineinhalb Kilometern bis zur Mauer in Millisekunden zurück. Als die Spitze des langen Geschosses in Leila Jamils Stirn eindrang, explodierte ein kleiner Sprengsatz. Die Explosion, die darauf folgte, hätte einen mittleren Panzer außer Gefecht gesetzt, denn gegen solche Ziele war die Waffe bestimmt. Leilas Kopf, Hals und Oberkörper bis zum Brustbein zerstäubten in rotem Nebel. Mikroskopisch kleine, nadelspitze Knochensplitter sprühten dem Gefangenen ins Gesicht. Der verstümmelte Rumpf kollerte ihm vor die Füße, die aufgerissene Brusthöhle zischte und dampfte von der Hitzeentwicklung durch die Explosivwirkung und Rasanz des Geschosses.
    Paul Bronstein begann zu schreien.

25
    Tate und Robinson hörten den Ruf des Arabers von oben fast gleichzeitig mit dem Knattern der Marinehubschrauber. In langen Sätzen überquerten die beiden Männer das letzte Stück des freien

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