36 - Das Vermächtnis des Inka
ebenes Land hinaus; gerade vorn aber stieg er hoch empor; er schien da einen Berg zu bedecken, in dessen Inneres die erwähnte Öffnung führte. Als der Vater Jaguar dies sah, fragte er den Häuptling: „Warum bleiben wir nicht im ebenen Land? Können wir durch den Berg kommen?“
„Ja“, antwortete der Gefragte. „Der Berg ist rund und hohl. Er birgt in seinem Innern ein Tal, welches Valle del Lago desecado (Tal des ausgetrockneten Sees) genannt wird. Da können wir hindurch, während der Wald aber so dicht ist und die Bäume desselben so durch Schlingpflanzen verbunden sind, daß kein Reiter, geschweige denn eine ganze Schar hindurch kann. Selbst ein Fußgänger müßte sich den Weg mit dem Beil oder mit dem Messer bahnen und würde in einem Tag höchstens so weit kommen, daß er diesen Weg in einer Viertelstunde zurücklegen könnte.“
„Kann man den Wald nicht umreiten?“
„Ja; aber er ist nach beiden Seiten so lang, daß wir einen Umweg machen müßten, welcher gewiß einen ganzen Tagesritt beträgt. Durch das Tal aber reiten wir nicht eine halbe Stunde lang und dann kommen wir noch einmal so lang durch die Breite des Waldes, hinter welchem wieder der Campo beginnt.“
„Und wie weit ist's nachher bis zu deinem Dorf?“
„Wir werden dort sein, noch ehe es dunkel geworden ist.“
„Wer von hier aus nach dem Dorf will, muß also, um keinen Umweg zu machen, durch dieses Tal des ausgetrockneten Sees gehen?“
„Ja.“
„Das ist gut, sehr gut!“
„Warum?“
„Davon nachher, wenn ich das Tal gesehen habe. Ich vermute, daß wir die Lage und Beschaffenheit desselben ganz vortrefflich gegen unsere Feinde ausnutzen können.“
Von weitem hatte es geschienen, als ob diese Öffnung eine Art Tunnel sei, denn die zu beiden Seiten derselben stehenden Bäume schickten sich ihre Äste zu und bildeten mit ihren Wipfeln ein geschlossenes Dach über diesem Eingang zum Tal. Aber als man näher kam, war zu sehen, daß man es mit einer Lücke zu tun hatte, welche in einen länglichen Kessel führte, den das Innere des Berges bildete.
Als die Reiter in demselben anlangten, hielt der Vater Jaguar sein Pferd an und schaute sich um. Es war allerdings sehr wahrscheinlich, daß sich hier einst ein See befunden hatte. Es gab noch heute einen kleinen Bach, welcher durch das einstige hintere Ufer kam und einen Weiher speiste, dessen helle Fläche in der Mitte des Tales lag. Die Wasser des Sees hatten das Ufer da, wo die Reiter jetzt hereingekommen waren, durchfressen und sich hinaus in die Ebene ergossen; dann war der Wald, welcher ihn umsäumt hatte, von der Höhe herabgestiegen und bedeckte nun die Seiten des Tals vollständig und so dicht, daß man nur mit Mühe zwischen den Bäumen einzudringen vermochte.
Der Vater Jaguar gebot den anderen zu warten und umritt das ganze Tal, um den Rand desselben genau in Augenschein zu nehmen. Als er zurückkam, sagte er im Ton der Befriedigung: „Für uns kann nichts vortrefflicher liegen als dieser Ort. Wir werden hier zu einem leichten Sieg kommen.“
„Wieso, Señor?“ fragte Leutnant Verano. „Meinen Sie etwa, daß wir die Feinde hier erwarten sollen?“
„Ja.“
„Das würde die größte Dumm – wollte sagen, der größte Fehler sein, den wir begehen könnten.“
Der Leutnant mußte zwar anerkennen, daß der Vater Jaguar ein seltener Mensch und Charakter sei, aber es widerstrebte ihm, sich demselben unterzuordnen. Er hielt sich als Offizier viel höherstehend als dieser Mann; er sagte sich im stillen, daß eigentlich ihm das Kommando gehöre. Er hatte zwar versprochen, sich zu fügen, allein seine gewalttätige, eigenmächtige Natur kam bei vielen Gelegenheiten, so auch wieder hier, zum Vorschein.
„Freut mich, daß Sie das Wort nicht ausgesprochen haben, Señor“, sagte Vater Jaguar im ernsten Ton. „Ich bin nicht gewöhnt, mich in dieser Weise kritisieren zu lassen. Ich habe meine Meinung geäußert und bin nicht dagegen, daß Sie uns die Ihrige auch kundgeben. Warum halten Sie das, was ich meine, für einen Fehler?“
„Weil wir hier aufgerieben würden.“
„Wieso?“
„Das fragen Sie? Señor, ich bin allerdings Offizier, was Sie freilich nicht sind. Man kann bei einem Laien nicht militärische Kenntnisse voraussetzen; aber das, wonach Sie fragen, ist eine so einfache und selbstverständliche Sache, daß ich sehr verwundert bin, Sie noch fragen zu hören.“
Vielleicht hatte er die Absicht, mit diesen Worten den Vater Jaguar in der Achtung der
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