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36 - Das Vermächtnis des Inka

36 - Das Vermächtnis des Inka

Titel: 36 - Das Vermächtnis des Inka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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wie dieser Mann, trug eine ganz gleiche Tasche auf dem Rücken und das Haar auch lang bis auf den Gürtel hinab, war ihm aber in anderer Beziehung um so mehr unähnlich. Dieser andere war nämlich ein Jüngling, welcher kaum achtzehn Jahre zählen mochte, nicht lang, aber stark und untersetzt gebaut und von einer auffallenden Gewandtheit in seinen Bewegungen. Sein Haar besaß die tiefste Schwärze; sein Gesicht war jugendlich frisch und vom Gehen jetzt leicht gerötet. Man mußte ihn ebenso wie den Alten für einen Indianer halten, und doch hätte man aus einigen Anzeichen schließen mögen, daß er kein solcher sei. Seine dunklen Augen standen nicht schief gegeneinander; die Backenknochen traten nicht hervor; die Lippen waren fein, und die kleine Nase hatte keineswegs die aufgeworfene Gestalt, welche den Nasen der Indianer Südamerikas eigen ist; sie besaß vielmehr eine edle Form, sie war schmal und leicht gekrümmt. Sein Gesicht war zwar jetzt von der Sonne verbrannt, hatte aber jedenfalls ursprünglich eine viel hellere als die gewöhnliche Indianerfarbe.
    Beide schritten zwischen dem Wasser der Lagune und dem Waldrand hin, um den letzteren mit scharfen Augen zu mustern. Da erhob der Jüngling die Hand, deutete vor sich hin und sagte im Kaltschakidialekt der Ketschuasprache: „Schau, Anciano, dort scheint der Baum zu stehen. Ich weiß genau, daß es ein Ombu von dieser Größe war.“
    Aus dem Umstand, daß der junge Mann sich dieser Sprache bediente, war mit Sicherheit zu schließen, daß seine Heimat nicht hier in dieser Gegend zu suchen sei. Der Ombu (Phytolacca dioeca) ist ein mächtiger Baum, dessen Blätter mit denjenigen des Maulbeerbaums große Ähnlichkeit haben. Das merkwürdigste an ihm ist sein Stamm, ein dicker Holzkörper vom Umfang einer mächtigen Eiche, der sich nach unten schnell ausdehnt und in gewaltige Wurzeläste teilt, die in Windungen eine Strecke über der Erde fortlaufen und erst dann in den Boden eindringen. Auf diese Wurzeln setzt man sich, wenn man den Schatten benutzen will, welchen die weit ausgebreitete Krone spendet. Aber dieser kolossale Stamm hat ein so lockeres Holz, daß es, wenn man hineinstößt, wie Zunder bricht. Darum ist der Ombu zu nichts zu gebrauchen, denn sein Holz ist nicht einmal zum Verbrennen tauglich. Man pflanzt ihn nur an, um einen Schattenspender zu haben.
    „Du kannst recht haben, o Herr“, antwortete der Alte in derselben Sprache. „Der Ombu, unter welchem wir unsere Sachen vergruben, ehe wir die Gegenden der Spanier besuchten, hatte ganz dieselbe Gestalt wie dieser. Laß uns nachsehen!“
    Der Alte nannte den Jungen ‚Herr‘, bei Indianern ein ganz und gar unmöglicher Brauch. Diese beiden Personen schienen in einem ganz eigentümlichen Verhältnis zueinander zu stehen. Sie schritten auf den Ombu zu, blieben unter demselben halten und legten ihre Taschen und Gewehre ab. Dann untersuchte der Alte den Boden. Auf eine Stelle deutend, an welcher das Gras im Wachsen zurückgeblieben war, sagte er: „Du hast richtig vermutet, Herr. Wir sind an Ort und Stelle. Weil wir damals den Rasen hier aufgruben, hat dem Gras die Ernährung gefehlt. Ich werde suchen. Hoffentlich hat niemand diesen Ort entdeckt.“
    Er kniete nieder und zog das Messer, um die Erde aufzugraben. Der Jüngling wollte dasselbe tun; der Alte aber bat: „Laß es mich allein tun, o Herr! Du bist zum Herrschen geschaffen, nicht aber zu dieser Arbeit eines Untergebenen.“
    „Und dennoch helfe ich dir, lieber Anciano. Du weißt ja, ich tu es gern, denn du bist alt, und ich bin jung.“
    Aber Anciano schob ihn mit dem Arm sanft zurück und antwortete: „Alt? Ich bin noch nicht alt. Ich zähle erst ein einziges über hundert Jahr; meine Vorfahren aber sind viel, viel älter geworden.“
    Während der Alte emsig grub, fuhr er fort: „Ja, weit über hundert Jahr! Mein Vater zählte hundertzehn, mein Großvater hundertelf und dessen Vater gar hundertzwanzig. Und dessen Vorgänger war es, der deine Urahnen aus der Hand der Spanier rettete, als sie den großen Inka Atahualpa ermordeten und seine ganze Familie ausrotten wollten. Haukaropora hieß dieser dein göttlicher Vorfahre, und denselben Namen hast du auch erhalten. Er war der jüngste Sohn von Atahualpa und in der Ferne geboren, so daß Pizarro, der Mörder, nichts von seinem Dasein wußte. Unser großes Reich wurde zerstört, mit dem Schwert und dem Feuer, durch List, Betrug und Verrat. Man meint, die Inkas seien ausgestorben, aber du

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