3,6 Millionen Schritte Himmel & Hölle - Pilgerreise auf dem Jakobsweg (German Edition)
Gipfel haben wir einen wunderschönen Ausblick auf die zweitgrößte aber sicher nicht schönste Stadt der Schweiz und den umso schöneren See. Heute geht’s also mal ausnahmsweise nur abwärts zu Fuß und es wird eine schöne Wanderung, auch wenn der Abstieg, den sich die vier ausgesucht haben, nicht ohne ist.
Zurück in Genf bummeln wi r durch die hektischen Straßen und schauen uns die wichtigsten Sehenswürdigkeiten an. Ich habe viel Spaß mit meinen vier Kameraden, und besonders Joe und ich verstehen uns fast ohne Worte und brauchen einander nur anzuschauen, um zu verstehen, was der andere meint.
Auch wenn ich heute nicht das gemach t habe, was ich eigentlich wollte, hätte ich sicher was verpasst, wenn ich den Tag nicht mit den vieren verbracht hätte. Ich habe lange nicht mehr so viel gelacht. Weil Freunde zusammenhalten, schmuggle ich später Dante, Joe und Annett mit in mein Zimmer. Dave hatte für diese Nacht noch reserviert, wo zum Glück noch genau drei Betten frei sind. Sie müssen erst in aller Frühe los zum Bahnhof und angeblich war die Jugendherberge ausgebucht…!
Am liebsten würde ich alle vier mitnehmen, aber es gibt noch viel zu entdecken im für sie fremden Europa, also nehmen wir, bevor wir schlafen gehen, schweren Herzens Abschied voneinander.
Fazit des Tages: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt…! Aber wie es auch kommt, ein Tag ohne ein Lachen ist ein verlorener Tag!
1. Teil FRANKREICH
Chemin de St. Jacques
4. Juni - 27. Juli, Genf - St. Jean Pied de Port,
ca. 1.090 Kilometer
1. Teil: Via Gebennensis (Genf - Le Puy)
Mittwoch, 4. Juni, 23. Tag:
Genf - Bardonnex, 8 km
Obwohl ich mal wieder überlege, wegen des miesen Wetters noch eine Nacht zu bleiben, mache ich mich dann doch noch ziemlich spät gegen 14:30 Uhr auf den Weg. Es regnet zwar wenig, aber dafür scheint’s gar nicht mehr aufzuhören. Weil es in der Jugendherberge nur einen Herbergsstempel gab, statte ich der Kathedrale Notre Dame noch einen kurzen Besuch ab, um mir dort den offiziellen Pilgerstempel abzuholen. Als der Priester mich bittet, kurz zu warten, zünde ich in der Zwischenzeit eine Kerze für meine Familie an.
M ein Blick fällt auf eine Wandmalerei, die eine Madonna zeigt, und darunter steht das Wort ’Familia’. Untermalt wird dieser ohnehin schon andächtige Moment von leiser Musik. Und während ich wehmütig und sehnsüchtig an meine Familie denke, beginnt das Lieblingslied meines verstorbenen Vaters, das ’Ave Maria’. Davon bin ich so überwältigt, dass ich meine Tränen nicht mehr zurückhalte und meinen Gefühlen freien Lauf lasse. Ich setze meinen Rucksack ab und nehme mir Zeit, um diesen Moment zu würdigen.
Bevor ich losgepilgert war, hatte ich das Buch von Hape Kerkeling gelesen, in dem er schreibt, dass der Weg einen irgendwann zum Weinen bringt. Ich war mir sicher, dass der Weg mich nicht so weit bringen würde, aber jetzt schafft er es doch - schon zum dritten Mal. Mit der Frage im Kopf, ob man durch den Jakobsweg vielleicht tatsächlich näher am Wasser baut, geht’s mit dem letzten Schweizer Stempel im Ausweis und Kloß im Hals weiter.
Kurz bevor ich Genf nach einer guten wei teren Stunde endgültig verlasse, wünscht mir ein portugiesischer Bauarbeiter von seinem Gerüst aus einen guten Weg und bittet mich, für ihn in Santiago ein Gebet zu sprechen. Wieder eine dieser Situationen, die einem Mut machen durchzuhalten.
Nach ca. zwei Stunden Marsch im gewohnten Dauerregen will ich meine erste Pause einlegen. Ich setze mich unter einen privaten Carport, weil ich weit und breit keinen anderen überdachten Platz entdecken kann. Wird schon nichts dabei sein, denke ich mir, packe mein Proviant aus und freue mich darüber, nach zwei Stunden endlich mal wieder im Trockenen zu sein. Kaum habe ich angefangen zu essen, öffnet sich die Haustüre und komischerweise kommt mir als erstes der Gedanke, dass ich jetzt wahrscheinlich aufgefordert werde, meine Sachen wieder zusammenzupacken und das Privatgrundstück zu verlassen.
Aber es kommt ganz anders: Michelle, die Besitzerin des Hauses, fragt mich, ob ich mich nicht lieber in ihrem Haus bei einer heißen Tasse Kaffee aufwärmen wolle. Überrascht nehme ich die Einladung an und erzähle ihr bei Kaffee und Schokolade - zum Glück spricht sie Englisch - von meinen Abenteuern. Als ich mich nach einer halben
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