3,6 Millionen Schritte Himmel & Hölle - Pilgerreise auf dem Jakobsweg (German Edition)
Abendstimmung und Aussicht. Als wir hinterher den Abwasch machen und die Musik aufdrehen, weil wir aufgedreht sind (es gibt ein Radio!), haue ich versehentlich einen Wandteller in Scherben. Zum Glück bringen Scherben Glück! Trotz beinahe Polterabend gehen wir mit dem Pariser Fahrradpilger Francois Xavier auf das anlässlich des morgigen französischen Nationalfeiertages stattfindende Dorffest. Und wir tanzen sogar!
Abends noch wegzugehen , geschweige denn zu tanzen, wäre mir in den ersten zwei Wochen meiner Pilgerreise im Leben nicht eingefallen, alleine schon, weil ich mich noch nicht mal mehr auf den Beinen hätte halten können. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in Deutschland in Badeshorts auf ein Fest gegangen zu sein, aber ist ja egal.
Spruch des Tages:
Originalton Jean Marie: Ein schönes Abend!
Living in America!
Montag, 14. Juli, 63. Tag:
Auvillar - Miradoux, 18 km
Die heutige Etappe ist schön kurz, angenehm zu laufen, das Wetter ist traumhaft, ich habe tolle Weggefährten an meiner Seite und die Gascogne, durch die wir gerade laufen, ist die schönste Landschaft seit dem Aubrac.
Ich wüsste beim besten Willen nicht , was mir jetzt noch zu meinem Pilgerglück fehlt. Ach doch, Musik! Übrigens stammte D’Artagnan aus dieser Gegend, einer von Alexandre Dumas’ Musketieren. Wir laufen durch atemberaubend schöne Sonnenblumenfelder, die bis zum Horizont reichen und wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe. Wenn wir nicht gerade mitten durch oder an Sonnenblumenfeldern vorbeilaufen, sind es riesige Kornfelder.
D ie Farben der Sonnenblumen- und Kornfelder bilden einen fantastischen Kontrast zu dem stahlblauen Himmel, den die schneeweißen Wolken nur noch schöner machen und wir sind hin und weg! Nachmittags in Miradoux folgen wir natürlich Annes Tipp und finden Aufnahme in der privaten Herberge von Therese, die genauso herzlich wie speziell ist.
Jean Marie, Zoe und ich bekommen ein Zimmer mit vier Betten und auch wenn Therese rührend um unser Wohl besorgt ist, fühlen wir uns nicht besonders wohl, weil es in der Herberge , um es nett auszudrücken, leider nicht gerade sauber ist.
Die knapp 70 -jährige Therese scheint ein kleiner Messie zu sein, was sich in der Sauberkeit bemerkbar macht. Es ist also nicht so schlimm, dass wir nur eine Nacht hier sind. Therese versteht es trotzdem, und das ist ja viel wichtiger, durch ihre Herzlichkeit und liebenswert-burschikose Art unsere Herzen zu erobern. Sie hat uns schon für das Dorffest anlässlich des Nationalfeiertages eingeplant, Widerstand zwecklos!
Abends bewaffnet sie uns also mit einem 5-Liter-Kanister Rotwein und den Speisen, die sie vorbereitet hat, nimmt uns mit auf das Fest und freut sich, dem Dorf „ihre“ Jakobspilger zu präsentieren. Es wird ein feuchtfröhlicher Abend mit einem tollen Buffet und tollem Sonnenuntergang in dem kleinen, typisch französischen Dorf.
Das Bild dieser unverkennbaren französischen Dorfidylle wird übrigens schon nachmittags abgerundet durch eine Gruppe Rentner, denen ich auf dem Dorfplatz im Schatten alter Bäume beim Boule zusehe, und mir wird bewusst, dass ich Frankreich wirklich nicht noch charakteristischer erleben kann. Ja, ich liebe dieses Land, gerade auch deshalb, weil ich es als Pilger zu Fuß kennenlerne!
Spruch des Tages: Originalton Jean Marie mit seinem herrlichen Akzent und einer Mischung aus Verwunderung und Entsetzen, als ich mir nachmittags während unserer Siesta bei Therese, nur einige Minuten nach meiner letzten Nahrungsaufnahme, mein selbst kreiertes „Snickers“ löffelweise reinziehe: “Was, Du hast schon wieder Hunger?”
Dienstag, 15. Juli, 64. Tag:
Miradoux - Le Romieu, 34 km
Heute steht eine der längsten Etappen meiner gesamten Pilgerreise an, die ich alleine laufe und die, was die Länge angeht, nur noch von einer übertroffen werden soll. Außerdem ein kleines Experiment: Ich laufe sieben der ersten zehn Kilometer zum ersten Mal barfuß.
Es ist ein Erlebnis der besonderen Art , einige Kilometer am Stück über saftige, durch Felder führende Graswege zu laufen, die vom Morgentau noch nass sind, und über angenehm kühle Waldböden, ähnlich vielleicht, wie nackt zu schwimmen. Den Rest der Strecke laufe ich in meinen Birkenstock-Sandalen. Auch das ist sehr schön, wird sich aber später rächen. Der erste Abschnitt bis Lectoure ist sehr
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