3,6 Millionen Schritte Himmel & Hölle - Pilgerreise auf dem Jakobsweg (German Edition)
den Knien oder dem Rücken einfach zu unerträglich wurden oder der ganze Körper einfach nicht mehr mitgemacht hat.
So zum Beispiel die Österreicherin, die ich zusammen mit Harald in Interlaken kennengelernt hatte. Sie wollte auch bis Santiago, aber nach unserer letzten Begegnung in Conques wurde mir erzählt, dass auch sie aufgegeben habe.
Meiner Meinung nach steht das in direktem Zusammenhang mit der Unfähigkeit , den inneren Schweinehund zu überwinden, was vielleicht eine geistige Einladung für noch mehr Schmerzen ist und am Ende auch ein willkommenes Alibi sein kann, den Weg abzubrechen. Ich weiß, wovon ich spreche. Wie oft habe ich in den ersten zehn Tagen in der Schweiz daran gedacht aufzugeben und alles hinzuschmeißen? Wie oft hätte ich heulen können vor Schmerzen?
Wenn ich es im ’Trainingslager Schweiz’ und auf den ersten 800 Kilometern nicht geschafft hätte, jeden Tag aufs Neue meinen verdammt hartnäckigen und starken Schweinehund zu überwinden, hätten mich die Schmerzen sicher fertiggemacht. Der Camino ist eben kein All Inclusive Club. Jean Marie und ich laufen die letzten Kilometer bis zur Herberge zusammen und kommen kurze Zeit später an einem Lidl-Markt vorbei.
Natürlich können wir der Versuchung nicht widerstehen , dort mal einen Großeinkauf zu machen - wir haben es ja nicht mehr weit bis zum Ziel - und ich fühle mich wie Alex im Wunderland, denn es gibt alles, was das Herz begehrt zu Preisen ähnlich wie in Deutschland. Wenn man gezwungen ist, wochenlang am Arsch der Welt oder am Busen der Natur nur in kleinen Dörfern in Tante-Emma-Läden zu verständlicherweise völlig überzogenen Preisen einzukaufen, weiß man so einen Discounter echt mal zu schätzen und ich freue mich wie ein Schneekönig.
Ich muss mich beherrschen , nicht zu viel einzukaufen, aber weil ich ja völlig ausgehungert über diesen Discounter herfalle, sind meine Einkaufstüten nach dem Einkauf fast schwerer als mein Rucksack. Ich bin heute wieder alleine gelaufen, treffe aber Zoe in der Accueil Jacquaire, wo ich vorsichtshalber mal die Chance zu reservieren genutzt habe, weil es dort nur sechs Plätze gibt und langsam auch mehr Pilger unterwegs sind.
In den öffentlichen Herbergen der jeweiligen Gemeinden kann man normalerweise nicht reservieren, aber in den etwas teureren privaten Unterkünften, zu denen auch diese zählt. Bei meiner Ankunft in der Herberge, einem kleinen Nonnenkloster, werde ich von der äußerst sympathischen niederländischen Gastgeberin Dini gefragt, welches mein letztes Etappenziel war und in welcher Gite ich dort übernachtet hätte.
W eil es offensichtlich die falsche war, werde ich gebeten, den Inhalt meines kompletten Rucksacks im Hof auf einem weißen Bettlaken auszubreiten und auszuschütteln. So sonderbar mir dieses Filzen meiner Klamotten erscheint, so plausibel ist der Grund: Aus eben dieser Gite in Lauzerte wurde Flohalarm gegeben und hier will man sich die unangenehmen Biester natürlich vom Leib halten. Außer Zoe, Jean Marie, Dini und mir sind noch die Französin Edith, die eigentlich meistens draußen übernachtet, und die beiden spanischen Fahrradpilger Fernando und Raul aus Barcelona anwesend. Wir kochen gemeinsam und verbringen einen total witzigen Abend zu siebt.
Fazit des Tages: Über Stifte, die im Dunkeln leuchten, kann man sich halb tot lachen!
Samstag, 12. Juli, 61. Tag:
Ruhetag in Moissac
Seit Conques sind schon wieder acht Tage und 206 Kilometer vergangen, also ist es wieder Zeit für einen Ruhetag. Zu meiner großen Freude schließen sich mir Zoe und Jean Marie an und wir verbringen gemeinsam einen schönen Tag in Moissac. Bei den Schwestern können wir leider keine zweite Nacht bleiben, weil die sechs Betten ausgebucht sind, aber von Dini bekommen wir den Tipp, in die Herberge
’La petite Lumiere’ zu wechseln, die unglücklicherweise hoch über den Dächern der Stadt liegt. Also ziehen wir in die private Herberge um, mit der wir einen absoluten Volltreffer landen, da sie von der fast schon umwerfend sympathischen Anne geleitet wird, sehr sauber und mit sehr viel Liebe zum Detail eingerichtet ist. Anne hatte das Großstadtleben in Paris satt und wollte sich den Traum einer Pilgerherberge in Moissac erfüllen.
Nach erfolgloser Suche stand sie an der direkt über der Herberge liegenden Marienstatue , klagte der Madonna ihr Leid und war kurz davor, ihr Vorhaben aufzugeben, als sie
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