3,6 Millionen Schritte Himmel & Hölle - Pilgerreise auf dem Jakobsweg (German Edition)
Leuchtturm auf dem Kap Finisterre über dem endlosen Ozean! Ich will einfach nur noch ankommen, habe aber auch immer wieder etwas Angst davor, dass es dann plötzlich vorbei ist. Wir kommen also an den Grenzstein mit der roten Aufschrift K.100, der leider von unzähligen Pilgern, die anscheinend das dringende Bedürfnis hatten, sich hier zu verewigen, völlig verschmiert ist.
Ein unglaubliches Gefühl nach so langer Zeit!
Klar, dass erst mal Fotosession angesagt ist.
Außer uns feiern auch noch einige andere Pilger den großen Moment. Ich brauche dann auch noch etwas mehr Zeit für mich, um den Moment noch auf mich wirken zu lassen und bitte meine Gruppe, ohne mich weiterzulaufen. Ich werde sie in der nächsten großen Pause einholen. Vor ein paar Minuten waren noch etwa 15 Pilger an diesem wichtigen Kilometerstein, doch jetzt stehe ich ganz alleine da und habe den Stein und den Moment nur für mich. Ich schreibe ein paar sms und plötzlich der unglaubliche Zufall: Ein Pilger kommt des Weges, was ja auf dem Jakobsweg nichts wirklich Besonderes ist.
Aber dieser Pilger ist besonders. Er ist groß, blond, hat einen auffälligen Safari-Hut und läuft mit freiem Oberkörper! Die Beschreibung passt! Als er am Kilometerstein anhält, spreche ich ihn sofort an: “Du musst Lukas sein!” Darauf er: “…und Du musst Alexander sein!” Genau wie ich von ihm, so hatte er ganz offensichtlich auch von mir gehört, und was für ein unglaublicher und schöner Zufall, dass ich dem einzigen Pilger, der genau denselben Weg zurückgelegt hat wie ich (abgesehen von den ca.17 Kilometern von Überlingen bis Konstanz), genau 100 Kilometer vor Santiago zum ersten Mal begegne!
Gemeinsam laufen wir ein paar Kilometer, sind ziemlich zügig unterwegs und treffen schon bald wieder auf meine Gruppe, mit der wir zusammen die letzten Kilometer bis nach Portomarin zurücklegen. Lukas erzählt mir, er sei erst Mitte Mai, also einen ganzen Monat später als ich aufgebrochen . Ich kann es kaum fassen, dass er eine solche Entfernung in etwas mehr als 70 Tagen geschafft hat. Er berichtet mir von Tagesetappen von 50 bis 60 Kilometern, einer Distanz, mit der sich auch andere Pilger brüsten.
Für mich waren solche Distanz en auf meinem gesamten Weg nie erstrebenswert und ich kann mir auch kaum vorstellen, wie bei einem solchen Gewaltmarsch noch Zeit und Ruhe bleiben soll, den Weg zu genießen. In Portomarin haben wir natürlich leider nur fünf Plätze reserviert und die Herberge ist voll. Lukas will sein Glück bei einer anderen Herberge versuchen und wir verabreden uns für später zum Schwimmen im schönen Stausee von Portomarin.
Als ich durch die Straßen von Portomarin laufe , treffe ich einen alten Bekannten wieder: Gordon, der Schotte, den ich am 5. Juni zusammen mit seinem Bruder Jimmy abends in Chaumont, kurz hinter der Schweizer Grenze, kennengelernt hatte! Unglaublich, dass wir seit 80 Tagen quasi aneinander vorbeigelaufen sind und immer in unterschiedlichen Herbergen übernachtet haben.
Fazit des Tages: Ich bin also doch nicht der einzige Verrückte!
Montag, 25. August, 105. Tag:
Portomarin - San Xulian, 29 km
Die Landschaft Galiciens ist mittlerweile so grün, dass sie vergleichbar ist mit einigen Abschnitten in Frankreich oder dass man das Gefühl hat, in einem deutschen Mittelgebirge oder am Niederrhein unterwegs zu sein.
Bis zum Nachmittag passt sich Lukas unserem gemächlichen Tempo an und wir beide haben natürlich eine Menge zu erzählen. Lukas ist wirklich durchgeknallt (ich meine das als Kompliment), weil er die meiste Zeit draußen geschlafen und sich entschlossen hat, nicht nach Deutschland zurückzukehren. Er ist gelernter Landwirt und hat Kontakt zu einer Kommune mit biologischer Landwirtschaft aufgenommen, bei der er einsteigen kann. Für mich ist das, was ich auf dem Rücken trage, ’nur’ für einen absehbaren Zeitraum mein einziger Besitz, aber für ihn ist es endgültig! Hut ab und Respekt!
Wir freuen uns dann über einen weiteren witzigen Zufall: Er hat einen Tag nach mir im Mai Geburtstag, wir sind also beide Stiere und außerdem im Jahr des Tigers geboren (Jahrgang 1974 und 1986)! Er erzählt mir von Shana, die auch in Konstanz losgelaufen und mit der er eine Weile zusammen gepilgert ist. Ihre Wege hätten sich aber zu seinem Bedauern getrennt und er hat sie aus den Augen verloren. Auch wieder wie im echten Leben. Shana
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