4 - Wächter der Ewigkeit
dem Falle … in dem Falle könnte der Mord an Viktor geplant gewesen sein. Sebulon könnte dahintergekommen sein, dass Prochorow auch uns hilft – und sich gerächt haben, indem er dessen Sohn umbrachte. Natürlich nicht eigenhändig.
Oder umgekehrt. Wie traurig das auch klingen mochte, doch auch Geser hätte durchaus den Mord in Auftrag gegeben haben können. Oh, nicht um sich zu rächen, gewiss nicht! Der Große findet immer eine moralisch einwandfreie Formulierung, mit der er seinen Wunsch rechtfertigt.
Stopp. Warum sollte mich Geser dann nach Edinburgh schicken? Wenn er schuldig war, dürfte er nicht davon ausgehen, dass ich ihn decken würde!
Und Sebulon hätte, wenn er schuldig wäre, noch viel weniger Grund, mir zu helfen. Denn ihm würde ich es, ungeachtet all seiner Schöntuerei, mit Vergnügen heimzahlen!
Folglich brauchten die Großen nichts mit der Sache zu tun zu haben …
Ich nippte an dem Wein. Stellte das Glas ab.
Die Großen hatten also mit der Sache nichts zu tun, verdächtigten sich aber gegenseitig. Und beide setzten sie auf mich. Niemals – und das wusste Geser – würde ich mir die Möglichkeit, Sebulon in die Suppe zu spucken, entgehen lassen. Ebenso – und das war Sebulon klar – würde ich im Zweifelsfall sogar gegen Geser vorgehen.
Immerhin etwas. Im Grunde konnte ich mir sogar kaum etwas Besseres wünschen. Ein Großer Lichter und ein Großer Dunkler, die im weltweiten Kampf zwischen Licht und Dunkel durchaus über einige Erfahrung verfügten, standen auf meiner Seite. Auf ihre Hilfe durfte ich rechnen. Zudem würde mir noch Foma Lermont helfen, dieser Schotte, dessen Familienname für ein russisches Herz so angenehm klang. Damit würde der Vampir nicht die geringste Chance haben zu entkommen.
Eine beruhigende Aussicht. Schließlich kam das Böse nur allzu oft ungestraft davon.
Ich erhob mich und schlängelte mich an meinem Sitznachbar vorbei in den Gang. Schaute auf die Anzeigentafel. Die Toilette vorn im Flugzeug war besetzt. Natürlich könnte ich jetzt einfach warten. Aber ich wollte mir die Füße vertreten. Deshalb zog ich den Vorhang beiseite, der die Businessclass von der Economyclass trennte, und schlenderte zum Ende des Flugzeugs.
Wie hieß es doch so schön: »Die Passagiere der Economyclass landen zusammen mit denen der ersten Klasse – nur weitaus billiger.« Nun, eine erste Klasse gab es in unserem Flugzeug nicht, aber auch die Businessclass war nicht schlecht, mit ihren bequemen breiten Sitzen und dem großzügigen Abstand zwischen den Reihen. Und die Stewardessen waren etwas aufmerksamer, das Essen schmeckte etwas besser, die Getränke flossen etwas reichhaltiger.
Die Fluggäste der Economyclass zogen allerdings auch kein langes Gesicht. Hier schlief oder döste einer, viele Passagiere lasen Zeitungen, Bücher oder Reiseführer. Ein paar Menschen arbeiteten an ihren Notebooks, ein paar spielten etwas. Einer, anscheinend ein echtes Original, steuerte das Flugzeug. Soweit ich es verstand, handelte es sich dabei um einen ausgesprochen realistischen Flugsimulator, und der Spieler flog eben unsere Boeing-767 von Moskau nach London. Ob er auf diese interessante Weise wohl seine Aerophobie bekämpfte?
Selbstverständlich sprachen etliche Passagiere auch dem Alkohol zu. Wie oft man auch darauf hinweisen mochte, dass dieser während eines Flugs besonders schädlich ist, es würden sich doch immer ein paar Unerschrockene finden, die sich ihren Weg über den Wolken auf diese Weise versüßen wollten.
Ich marschierte zum Ende des Gangs. Hier waren die Toiletten ebenfalls besetzt, sodass ich ein paar Minuten warten musste, wobei ich den Blick auf die Hinterköpfe der Fahrgäste gerichtet hielt. Prachtvolle Frisuren, mädchenhafte Pferdeschwänze, kurze Igel, funkelnde Glatzen, komische kindliche Irokesen. Hundert Köpfe, die über ihre jeweiligen Londoner Angelegenheiten nachdachten …
Die Toilettentür öffnete sich, und herauskam ein junger Mann, der sich an mir vorbeizwängte. Ich betrat das Klo.
Und hielt inne.
Drehte mich um.
Der Mann war um die zwanzig. Breitschultrig und etwas größer als ich. Einige Jugendliche bekommen erst nach ihrem achtzehnten Lebensjahr einen Wachstumsschub und breite Schultern. Früher erklärte man das mit dem positiven Einfluss der Armee, die aus einem Jungen einen Mann macht. Letztendlich sind es aber bloß Hormone, die sich in diesem Organismus auf ebendiese Weise bemerkbar machen.
Ein Durchschnittsgesicht.
»Jegor?«, sprach
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