4 - Wächter der Ewigkeit
ich ihn in fragendem Ton an.
Und spähte rasch durchs Zwielicht.
Ja, ohne Frage. Selbst wenn er eine Eisenmaske getragen hätte, hätte ich ihn erkannt. Jegor, der Lockvogel Sebulons, den sich Geser geschnappt und so geschickt für seine Zwecke eingespannt hatte. Der früher der einmalige Junge mit der unbestimmten Aura gewesen war.
Inzwischen war er zu einem jungen Mann herangewachsen. Den immer noch eine unbestimmte Aura umhüllte. Ein durchscheinendes Leuchten, das gewöhnlich farblos war, sich manchmal jedoch auch rot, blau, grün und gelb einfärbte. Wie der Sand in der vierten Schicht des Zwielichts – du brauchst nur genau hinzusehen und erkennst alle Farben der Welt. Ein potenzieller Anderer, der selbst im Erwachsenenalter noch werden konnte, was er wollte. Ein Lichter oder ein Dunkler.
Sechs Jahre hatte ich ihn nicht gesehen!
Was für ein Zufall!
»Anton?« Er war nicht weniger verwirrt als ich.
»Was machst du denn hier?«, fragte ich.
»Ich fliege.« Eine dämliche Antwort.
Dennoch stand ich ihm in nichts nach und kriegte eine noch idiotischere Frage fertig. »Wohin?«
»Nach London«, antwortete Jegor.
Und plötzlich, als ginge ihm mit einem Mal die ganze Komik unseres Gesprächs auf, lachte er los. So leicht und sorglos, als nehme er weder der Nachtwache noch Geser, mir oder sämtlichen Anderen dieser Welt etwas krumm.
Im nächsten Moment klopften wir uns gegenseitig auf die Schulter und brummten den üblichen Quatsch ä la »Das nenn ich Überraschung!«, »Erst vor Kurzem habe ich an dich gedacht …«, »Nie hätte ich damit gerechnet …«. Kurzum, wir verhielten uns genauso, wie es sich gehört, wenn man gemeinsam etwas Bedeutsames, aber nicht gerade Angenehmes erlebt, sich dann zerstritten hat und später, weil es doch so lange her war, in Erinnerung vor allem interessante Momente findet.
Trotzdem waren wir einander nicht so gewogen, um uns zu umarmen und von Rührung übermannt zu werden.
Die Passagiere in unserer Nähe beäugten uns, anscheinend jedoch voller Sympathie. Eine zufällige Begegnung von zwei alten Bekannten an einem so unerwarteten Ort wie in einem Flugzeug ruft stets das Wohlwollen der Zuschauer hervor.
»Bist du meinetwegen hier?«, fragte Jegor dann doch mit einer Spur seines früheren Misstrauens in der Stimme.
»Bist du bescheuert?«, empörte ich mich. »Ich bin geschäftlich unterwegs!«
»Alle Achtung.« Jegor kniff die Augen zusammen. »Arbeitest du immer noch da?«
»Klar.«
Inzwischen achtete niemand mehr auf uns. Auch wir fingen an, allmählich nervös auf der Stelle zu treten, denn wir wussten nicht, worüber wir uns noch unterhalten sollten.
»Du … wie ich sehe … bist du noch nicht initiiert?«, fragte ich plump.
Eine Sekunde lang spannte Jegor sich an. »Ihr seid doch alle gleich!«, meinte er dann mit einem Lächeln. »Weshalb hätte ich das tun sollen? Du weißt doch ganz genau … mit Mühe schaffe ich den siebten Grad. Damit bin ich kein großes Licht. Und – wenn du so willst – auch kein großes Dunkel. Deshalb habe ich alle fortgejagt.«
In meiner Brust heulte es schmerzlich auf.
Solche Zufälle konnte es nicht geben.
Wie Leonid Prochorow war auch Jegor ein Mensch geblieben, hatte er nicht den Weg zu den Anderen gewählt.
Das Licht soll mich strafen – aber solche Zufälle gab es nicht!
»Wohin fliegst du?«, fragte ich erneut, was bei Jegor einen weiteren Lachanfall auslöste. Vermutlich galt er als die Seele jeder Clique: Er lacht gern und ansteckend. »Okay, das habe ich verstanden. Nach London. Zum Studium? Oder machst du da Urlaub?«
»Im Sommer Urlaub in London?« Jegor schnaubte. »Dann könnte ich doch gleich in Moskau bleiben, oder? Dieser Asphaltdschungel oder jener – das ist doch alles eins … Ich fahre zum Festival.«
»Nach Edinburgh?«, hakte ich nach, obwohl ich die Antwort bereits kannte.
»Ja. Ich habe die Zirkusschule abgeschlossen.«
»Was?« Jetzt war es an mir, große Augen zu machen.
»Ich bin Illusionist.« Jegor schmunzelte.
Das war ein Ding!
Wobei – für einen Anderen war das eine hervorragende Tarnung. Selbst ein nicht Initiierter verfügt über Fähigkeiten, die, so gering sie auch sein mögen, jene eines Menschen dennoch übersteigen. Von einem Zauberkünstler erwartet man Wunder. Die Menschheit hat ihnen eine Lizenz zum Zaubern und magischen Handeln ausgestellt.
»Klasse!«, meinte ich ehrlich.
»Schade, dass du nach London fliegst«, seufzte Jegor. »Ich hätte dich gern zu einer
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