4 - Wächter der Ewigkeit
zweifelte wie der junge Franzose aus den »Verliesen«. Wir alle sind Kinder der Massenkultur. Wir alle glauben an die Klischees, die sie verbreitet. Du brauchst dich nicht einmal auszuweisen, wenn du dich wie ein Geheimagent in einem Thriller verhältst.
»Lera, ich möchte Sie bitten, sich zusammenzureißen und an alle Einzelheiten von Viktors Tod zu erinnern«, forderte ich sie auf. »Ich weiß, dass Sie das alles schon mehrfach geschildert haben. Versuchen Sie es trotzdem noch einmal.«
»Wir kletterten in dieses dämliche Boot«, fing Lera an. »Ich wäre fast hingefallen, denn man kann nicht sehr gut einsteigen, der Boden liegt sehr tief, was man in der Dunkelheit überhaupt nicht mitkriegt.«
»Erzählen Sie alles von Anfang an. Wie Sie morgens aufgestanden sind – fangen Sie damit an. Und lassen Sie nicht die winzigste Kleinigkeit aus.«
In Leras Augen loderte ein dreistes Feuerchen auf. »Also … wir sind um zehn aufgewacht, da war’s fürs Frühstück schon zu spät. Deshalb haben wir Liebe gemacht. Dann sind wir unter die Dusche gegangen. Da ging’s weiter …«
Mit wohlwollendem Lächeln nickte ich, während ich ihrer Geschichte zuhörte – die wirklich kein Detail aussparte. Als die junge Frau zu schluchzen anfing, ließ ich schweigend ein paar Minuten verstreichen. Ihre Tränen versiegten, Lera schüttelte den Kopf. Sah mir in die Augen. »Dann sind wir in einen Pub gegangen … ›Eiche und Band‹ … um etwas zu essen. Wir haben auch jeder einen Krug Bier getrunken. Es war heiß, dann haben wir die Reklame für diese verfluchte Sehenswürdigkeit bemerkt. Viktor hielt das für interessant. Na ja … zumindest würde es dort kühl sein. Deshalb haben wir das Ding besucht.«
Nichts. Keine Spur. Außerdem sah ich nun ein, dass auch diejenigen, die Lera vor mir befragt hatten, Profis waren, die sie in die Mangel genommen, sie gezwungen hatten, sich an alles zu erinnern, die dutzendmal nachgefragt und immer weitere Fragen gestellt hatten. Was sollte ihr da jetzt noch Neues einfallen?
Als sie abermals den Kahn und den unkomfortablen Einstieg beschreiben wollte, hob ich die Hand. »Stopp, Lera. Dieses Spiegellabyrinth … Sie haben gesagt, das sei am interessantesten gewesen. Ist auch dort nichts Außergewöhnliches passiert?«
Warum ich das fragte, wusste ich nicht. Vielleicht, weil ich an Jegor dachte. Vielleicht, weil mir die alte und unzutreffende Legende einfiel, der zufolge Vampire kein Spiegelbild haben.
»In dem Spiegellabyrinth …« Lera runzelte die Stirn. »Ach ja! Doch. Vitja hat jemandem zugewinkt. Als ob er einen Bekannten gesehen hätte. Später hat er mir dann gesagt, dass er sich wohl getäuscht hatte.«
»Und Sie, Lera? Haben Sie jemand Bekanntes gesehen?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Da ist alles voller Spiegel. Man verliert sich wirklich in den Gesichtern, in den Menschen. Das ist etwas ärgerlich … und ich habe versucht, nicht hinzusehen.«
»Haben Sie eine Vermutung … wen er gesehen hat?«
»Wäre das denn wichtig?«, fragte Lera ernst.
»Ja«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.
Das war sehr wichtig. Das war eine eindeutige Spur. Wenn in den Verliesen ein Vampir gewesen wäre, der den Blick der Besucher ablenkte, hätte man ihn im Spiegellabyrinth trotzdem gesehen. Und vielleicht hatte Viktor ihn nicht nur bemerkt – sondern auch erkannt.
Warum könnte diese Entdeckung eine Gefahr dargestellt haben? Ein Mensch besucht die Verliese – was sollte schon dabei sein? Warum brach ein Vampir deshalb in Panik aus und ermordete den völlig harmlosen, armen Studenten?
Ich wusste es nicht. Noch nicht.
»Ich glaube, Viktor dachte, einen Bekannten entdeckt zu haben … der nicht von hier war«, sagte Lera nach kurzer Überlegung. »Denn er hat sich ziemlich gewundert. Wenn es jemand von der Uni gewesen wäre, hätte er gewinkt und ihm ein Hallo zugerufen. Doch er hat nur gewinkt, nicht gerufen. Na, wie man das eben macht, wenn man sich nicht ganz sicher ist, ob man wirklich einen Bekannten entdeckt oder sich getäuscht hat. Und dann, als er niemanden fand, war er irgendwie irritiert. Er hat gemeint, er habe sich geirrt. So … als ob er sich selbst davon überzeugen würde, dass es nicht sein konnte. Hat Vitja seinen Mörder gesehen, Anton?«
»Ich fürchte ja.« Ich nickte. »Möglicherweise ist genau das der Grund, weshalb er ermordet wurde. Vielen Dank. Sie haben mir sehr geholfen.«
»Soll ich der Polizei davon erzählen?«, erkundigte sich
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