4 - Wächter der Ewigkeit
stellte ich in eine Ecke. Dann zog ich mein blutgetränktes T-Shirt aus, schmiss es in den Mülleimer. Und schaute mich im Spiegel an.
Ein prachtvolles Bild. Eine blutverkrustete Schulter, eine schreckliche, glutrote Narbe an der Stelle, an der die Kugeln eingedrungen waren.
Egal. Hauptsache, die Wunde heilte. Dazu genügte der Avicenna, und morgen früh würde nichts mehr zu sehen sein. Was kann uns Zauberern eine Schusswunde schon anhaben? Nix! Kein Wort verlieren wir über dergleichen. Trotzdem zog ich die Vorhänge vor und schaltete die Deckenlampe aus. Wenn mir jemand eine Kugel in den Kopf jagte, würde keine Magie mich mehr retten.
Während ich unter der Dusche stand, um mir Schweiß und Blut abzuwaschen und auch, zugegeben, um einfach den warmen Wasserstrahl zu genießen, versuchte ich, mir das Unerklärliche zu erklären.
Bei den schottischen Verliesen handelte es sich um eine anomale Zone, in der die Kraft aus unserer Welt herausfloss. Wohin? Offenbar in die unteren Schichten des Zwielichts. So weit war alles klar.
Den Studenten Vitja hatte ein Vampir ermordet. Warum? Weil Viktor ihn im Spiegellabyrinth gesehen und erkannt hat. Dem Vampir musste sehr daran gelegen sein, sein Inkognito zu wahren. Auch das war klar.
Jegor hatte man als potenziellen Spiegel nach Edinburgh eingeladen. Und zwar als einen Magier, der Partei für die Nachtwache ergreifen sollte – Foma würde sich schließlich nicht ins eigene Fleisch schneiden! Er befürchtete eine ernsthafte Auseinandersetzung, in der die Dunklen die Oberhand behalten würden. Seine Angst musste zudem so groß sein, dass er sich auf jede erdenkliche Weise zu schützen versuchte. Mich hatte Geser offensichtlich ebenfalls auf Fomas Bitte hin nach Schottland geschickt. Auch das war noch recht klar.
Der Rest blieb mir ein Rätsel.
Viktor hatte man das Blut ausgesaugt – doch nur ein Vampir mit seinem wie eine Vakuumpumpe funktionierenden Hals vermochte das innerhalb von drei, vier Minuten zu bewerkstelligen. Der Vampir hatte das Blut jedoch in den Graben ablaufen lassen. Warum? War er satt? Ein Vampir war nie satt genug, um auf eine weitere Portion zu verzichten. Blut bedeutet ja nicht nur Nahrung, sondern auch Energie – und zwar in der einzigen Form, in der Vampire sie aufnehmen können. Ein Vampir verarbeitet getrunkenes Blut innerhalb von einer Viertelstunde. Warum hätte er es vergießen sollen? Um den Verdacht von Vampiren abzulenken? Aber die Menschen glaubten ohnehin nicht an Vampire, und die Wache würde alles anhand der Form der Wunde erkennen.
Warum war der Wachtposten beseitigt worden? Noch dazu auf so grausame Art und Weise? Hatte er jemanden in den Verliesen gestört? Freilich, es gibt hunderterlei Arten, einen Menschen auszuschalten, ohne ihm Schaden zuzufügen. Zum Beispiel den Morpheus. Den Ruf der Vampire. Oder schlicht einen Knüppel über die Rübe, hart, aber nicht tödlich! Dieser Mord war einfach unverständlich, unnötig …
Dann der schießende Roboter, der alles vollends verwirrte! Manchmal setzen sowohl wir als auch die Dunklen Schusswaffen ein. Vor allem die jungen Anderen, in denen tief verwurzelt der Glaube an schwere Pistolen, an mit silbernen Kugeln geladene Maschinengewehre und leistungsstarke Granaten sitzt … Aber im friedlichen Edinburgh einen ferngesteuerten Schießroboter loszulassen! Mir war nicht mal klar gewesen, dass solche Dinger inzwischen die Phase des Prototyps hinter sich gelassen haben und in China am Band hergestellt werden. Gewiss, viel Aufwand erfordern sie nicht: ein Drehkranz, eine Videokamera und ein Nachtsichtgerät, eine Halterung für eine x-beliebige Handwaffe und ein Auslöser. Derjenige, der mir das Ding in den Weg gestellt hatte, blieb in sicherem Abstand versteckt, behielt den Schirm der Funkanlage im Auge, fuhrwerkte mit dem Joystick herum und drückte den »Feuer«-Knopf. Das konnte ein Magier, aber auch ein Vampir tun. Und letzten Endes sogar ein Mensch.
Was ging hier vor? Woher rührte diese Aggression gegen mich? Einen Hohen Lichten, einen Mitarbeiter der Nachtwache zu überfallen stellte ein schwerwiegendes Vergehen dar. Derjenige, der das getan hatte, hatte nichts mehr zu verlieren …
Nachdem ich mich ordentlich abgetrocknet hatte, warf ich mir den weißen Seidenbademantel über und verließ das Bad. Ich musste was essen. Und sei es nur Schokolade aus der Minibar. Und mir an die hundert Gramm Whisky genehmigen. Oder ein Glas Wein. Danach könnte ich mich auf das Seidenlaken fallen
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