4 - Wächter der Ewigkeit
ein zugeschneiter Junge von etwa fünf Jahren mit einer großen Mütze mit Ohrenklappen, der eine Hand fest um eine Plastikschaufel geschlossen hatte. Vermutlich handelte es sich um den Sohn der Kartenverkäuferin, auf den zu Hause niemand aufpassen konnte … Im Grunde nichts Besonderes – aber auf mich wirkte die Szene so bedrückend, dass ich mich gezwungen sah, den Fahrer eines vorbeifahrenden Lastwagens auf magische Weise anzuhalten, damit er mich unverzüglich ins Stadtzentrum zurückbrachte.
In einem vergleichbaren Bezirk, wenn man die allgemeinen Unterschiede der Städte berücksichtigt, hatte das Büro der Nachtwache seinen Sitz. Eine Karte brauchte ich nicht, da ich auch so spürte, wohin ich gehen musste. Am Basar vorbei, vom Zentrum weg, etwa zehn Minuten Fußweg. Dabei gelangte ich quasi in eine neue Welt. Nein, nicht in die grelle Welt der orientalischen Märchen, sondern in eine durchschnittliche, wie man sie auch in den asiatischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion, in der Türkei und den Ländern Südeuropas antrifft. Halb europäisch, halb asiatisch, vereinigte sie nicht gerade die besten Momente beider Teile in sich. Viel Grün – aber damit hatte es sich dann auch. Die ein- bis zweistöckigen Häuser waren staubig, schmutzig und baufällig. Wären sie weniger einheitlich, könnten sie sogar den Blick des Touristen erfreuen. Aber selbst das tun sie nicht, alles ist erbärmlich und gleichförmig: Wände, von denen der Putz abbröckelt, trübe Fenster, sperrangelweit aufstehende Haustüren, an im Hof gespannten Schnüren aufgehängte Unterwäsche. Aus den Tiefen meines Gedächtnisses tauchte die Fügung »Schilfbeton-Bauweise« auf. Trotz der schnöden bürokratischen Einfärbung beschrieb diese Bezeichnung die Gebäude äußerst treffend, die, als Übergangslösung gedacht, nun schon mindestens ein halbes Jahrhundert bewohnt wurden.
Das Büro der Nachtwache befand sich in einem großen, eingeschossigen Haus, das ebenfalls heruntergekommen wirkte, aber immerhin über einen bescheidenen Vorgarten samt Zaun verfügte. In einem solchen Haus, so schoss es mir durch den Kopf, könnte man sich gut einen kleinen Kindergarten mit lauter dunkelhäutigen, schwarzhaarigen Rangen vorstellen.
Doch die hier untergebrachten Kinder waren schon seit langer Zeit erwachsen. Ich ging um einen am Zaun geparkten Peugeot herum, öffnete die Pforte, ging an Beeten vorbei, in denen vertrocknete Blüten um ihr Leben kämpften, und las erschaudernd eine an der Tür angebrachte alte Tafel von sowjetischbürokratischem Aussehen:
NACHTWACHE
Abteilung Samarkand
Öffnungszeiten: 20.00 – 8.00 Uhr
Im ersten Moment befürchtete ich, den Verstand verloren zu haben. Dann sah ich mir das Ding noch einmal durchs Zwielicht an. Kein Zweifel, die Aufschrift prangte dort tatsächlich, ausgeführt in gelben Buchstaben auf schwarzem Grund und von einer zersprungenen Glasscheibe bedeckt. Eine Ecke der Scheibe fehlte, und der letzte Buchstabe im Wort »Wache« war verblichen und verblasst.
Daneben wurde der Text noch einmal in Usbekisch wiederholt, weshalb ich erfuhr, dass »Nachtwache« übersetzt wie »Tungi Nasorat« klingt.
Ich stieß die Tür auf, die natürlich nicht abgeschlossen war, und fand mich sogleich in einem großen Saal wieder. Wie im Orient üblich gab es keinen Vorraum. Wozu hätte man in Samarkand allerdings auch eine Diele gebraucht – schließlich wurde es hier nicht kalt.
Die schlichte Einrichtung erinnerte ein wenig an eine kleine Milizabteilung, aber auch ein wenig an ein Büro aus Sowjetzeiten. Am Eingang gab es einen Garderobenständer und mehrere Schränke mit Papieren. An einem Bürotisch tranken drei junge Usbeken und eine füllige Russin mittleren Alters Tee. Auf dem Tisch brodelte ein großer elektrischer Samowar vor sich hin, der im bunten Chochloma-Stil bemalt war. Hast du Töne? Ein Samowar! So ein Ding hatte ich in Russland das letzte Mal auf dem Flohmarkt in Ismailowo gesehen, neben Matrjoschkas, Mützen mit Ohrenklappen und ähnlichem Kram für ausländische Touristen. Ein paar weitere Tische waren leer. Ein alter Computer mit einem ausladenden Bildschirm dröhnte auf einem der hinteren Tische … Den Ventilator hätte man schon längst mal auswechseln müssen.
»Assalom alaikum«, sagte ich, wobei ich mir wie ein kompletter Idiot vorkam, der versuchte, den Weisen zu mimen. Warum hatte Geser mir bloß kein Usbekisch beigebracht?
»Alaikum assalom«, entgegnete die Frau. Sie war
Weitere Kostenlose Bücher