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40 - Im fernen Westen

40 - Im fernen Westen

Titel: 40 - Im fernen Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Röcke zu wenden hat, so steppt er seinen Geburtsschein, sein Taufzeugnis und wo möglich ooch noch seine Impflegitimation unter den Henkel, damit der Lumpensammler später sieht, wem er den Profit zu verdanken hat. – Aber, Emil, was ich dir sagen wollte: Du bist wirklich een tüchtiger Kerl!“
    „Warum?“
    „Warum? Das brauche ich dir wieder nich erst zu sagen. Hier is de Türe. Mach, daß du 'neinkommst, und ruhe dich gehörig aus. Es is mein' Seel' keen Spaß, nur immer so den Lebensretter zu spielen. Gestern off der Dachfirste und heut gar im Felsenbruche. Ich bin nur neugierig, wo's morgen werden wird; vielleicht droben im Monde. Das halte der Deixel aus, ich nich! Leb wohl, Emil! Komm, Heinrich, du gehst doch mit heeme?“
    „Jawohl; 's wird endlich 'mal Zeit. Leb wohl, Emil!“
    „Adieu!“
    Er trat in seine Stube, die er verlassen hatte, ohne zu ahnen, welche Bedeutung die nächsten Viertelstunden für ihn haben würden.
    Aber er gönnte sich die nach der gehabten Aufregung und Anstrengung so notwendige Ruhe nicht, sondern kaum hatte er die schadhaft gewordene Kleidung mit einer anderen vertauscht, so öffnete er ein Fach seines Schreibpultes und zog einen Pack Briefe hervor, aus denen er einen herausnahm und öffnete, um ihn zu lesen.
    Den ersten Teil des Schreibens überblickte er mit flüchtigem Auge; den letzten Zeilen aber schenkte er doppelte Aufmerksamkeit.
    Sie lauteten:
    „Selbst ein nur leidlicher Polizist hätte das Material ein hinreichendes nennen müssen. Der Stubennachbar war jedenfalls der Täter; denn er hatte bei seiner Entfernung das sämtliche Gepäck des Ermordeten bei sich gehabt, worauf der Hausknecht sich leider zu spät besann. Sein Signalement war ein vollständiges, und wenn ich auch annehme, daß der dichte, schwarze Vollbart ein falscher gewesen sei, so kann doch dieser Umstand ein gutes Auge nicht irre leiten. Als vorsichtiger Mann hat er die eingeschlagene Route jedenfalls bei der nächsten Station schon verändert; aber man hatte ja Erkennungszeichen, und das sicherste, wenn auch nicht auf den ersten Blick zu ermittelnde, war eine Namenstickerei, welche der Hausknecht beim Reinigen des Oberrockes an der inneren Seite des Kragens bemerkt hatte. Sie lautete: ‚Jules Ragellef, marchand tailleur, Paris‘. Hiermit war der Nachforschung das Terrain geöffnet. Aber man gefiel sich wie gewöhnlich in dem ignoranten Belächeln meiner Gründe und Folgerungen und lief ins Blaue hinein, bis man Weg und Steg verloren hatte und endlich froh war, zu Hause bei Muttern von der erfolglosen Hetzjagd ausruhen zu können. Meine akademischen Kenntnisse geben mir das Übergewicht über die Mehrzahl meiner Kameraden. Das erweckt Neid und Mißgunst und stellt mich in die traurige Lage, immer nur zu meinem Schaden gegen die Feindschaft meiner Vorgesetzten ankämpfen zu müssen. Man scheut keine Anstrengung, mich müde zu machen, und erreicht man diesen Zweck nicht, so wird man über kurz oder lang eine Gelegenheit, mich zu blamieren, bei den Haaren herbeiziehen, welche die Veranlassung zu meiner Entfernung sein wird.
    Kommissar Hagen, ein Neffe Eures Polizeirates, ist der unversöhnlichste meiner Gegner; doch fürchte ich weder ihn, noch die anderen. Ich tue einfach meine Pflicht und werde ja sehen, wessen Geduld die ausdauerndste ist.
    Dein Bruder.“
    Als er die Zeilen wiederholt gelesen, blickte er lange mit sinnendem Ausdruck über das Papier hinweg durch das Fenster hinaus.
    Er mochte an die Schwierigkeiten denken, welche sich dem entgegenstellten, welchem die Hebel fehlen, die der Bevorzugte zum Zweck eines raschen Avancements anzusetzen pflegt. Gerade so wie er, war auch sein Bruder lediglich nur auf seine eigene Kraft und Geschicklichkeit angewiesen gewesen und hatte unausgesetzt mit widerlichen Schicksalen zu ringen gehabt.
    Die Liebe hatte ihn mit der Tochter eines seiner höchsten Vorgesetzten zusammengeführt; aber obgleich seine Neigung mit aller Treue und Herzlichkeit erwidert wurde, durfte er sich doch nicht eher Hoffnung auf die Erfüllung seiner Wünsche machen, als bis es ihm geglückt war, aus seiner untergeordneten Stellung in eine höhere emporzurücken. Aber bei der feindseligen Beharrlichkeit, mit welcher man ihm jede Gelegenheit, sich auszuzeichnen, entzog und seine Befähigung in Zweifel zu ziehen strebte, war dieser Zeitpunkt in die größte Ferne hinausgeschoben.
    Die Lage des Bruders drückte Emil mehr, als es früher eigene Hilfsbedürftigkeit getan

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