40 Stunden
dann– endlich wagte er es. Er trat vor. Hinein in das grelle Licht, das ihn einhüllte wie eine Aura. Seine Augen brannten, doch er wandte den Blick nicht ab und machte noch einen Schritt vorwärts.
Und dann konnte er plötzlich sehen.
Das Licht. Es stammte gar nicht von einem Engel. Es war nur ein einfacher Baustrahler auf einem Stativ, mit dem ihm jemand in die Augen geleuchtet hatte. Er war geblendet worden. Der Engel… existierte er etwa gar nicht?
Die Frage war so furchtbar, dass sie ihm das Herz aus Fleisch und Blut zerriss. Er warf sich herum.
Und endlich floh er.
***
Polizeimeister Walter Assauer kämpfte gegen die Müdigkeit, die seine Lider wieder und wieder nach unten zu zwingen drohte.
Wie sehr er diese Nachtschichten hasste!
Er starrte durch die Windschutzscheibe des abgestellten Streifenwagens in den beginnenden Tag hinaus und dachte an Jutta, seine Frau. Sie lag um diese Zeit wahrscheinlich noch selig schlummernd in ihrem gemeinsamen Bett und schnarchte leise vor sich hin. Er beneidete sie darum, dass sie schlafen konnte– nicht nur in diesem Augenblick, sondern generell. Sie ahnte nichts davon, dass der Arzt ihm neulich gesagt hatte, da sei etwas an seiner Prostata. Walter hatte es Jutta verschwiegen, weil er nicht wusste, wie er es ausdrücken sollte. Wie sagte man der Frau, mit der man bald vierzig Jahre verheiratet war, dass man Krebs hatte? Eine ungewöhnlich aggressive Sorte noch dazu, die ihm vielleicht noch ein halbes Jahr zum Leben ließ.
Es gab keine Worte dafür.
Und so hatte er geschwiegen, hatte sich eingeredet, dass es so besser war, dass sie sich sonst nur unnötig Sorgen um ihn machte und er ihr die letzten Tage nicht verderben wollte, die ihnen noch blieben.
» He!« Lukas Jellinghaus, sein Kollege, der auf dem Beifahrersitz neben ihm saß, knuffte ihn gegen den Oberschenkel. » Worüber grübelst du schon wieder nach?«
Walter zuckte die Achseln. » Nichts!«
» Du hast doch nicht etwa Probleme mit Jutta?«, neckte Lukas. » Mann, ihr habt in zwei Jahren vierzigsten Hochzeitstag!«
In zwei Jahren!
Walter verspürte einen Anflug von Wehmut. Fast hätte er Lukas erzählt, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit nicht einmal mehr seinen neununddreißigsten Hochzeitstag erleben würde. Doch genau in dem Moment, in dem er den Mund aufmachte, rannte jemand direkt vor ihrem Wagen über die Straße, ohne nach rechts und links zu schauen.
Walter griff nach dem Autoschlüssel und startete den Motor. » An die Arbeit!«, seufzte er.
Sie überholten den Mann, der nun auf den Viktoriapark zurannte. Einige Meter vor ihm hielten sie an und stiegen aus.
» Warten Sie mal kurz, bitte!«, forderte Lukas den Mann auf.
Der gehorchte. Zitternd und mit hängendem Kopf blieb er stehen.
Wieder so ein verdammter Junkie!, dachte Walter. Jeder hatte eben seine eigenen Dämonen, die ihn hetzten. Das Gesicht des Mannes war glatt und sehr bleich. Seine Haare hingen ihm lang und wirr um die Wangen. Sie sahen seltsam starr aus, als sei irgendeine Flüssigkeit in ihnen getrocknet.
» Ach du Scheiße!«, hörte Walter Lukas murmeln, und im gleichen Augenblick begriff auch er selbst.
Der Kerl vor ihnen war blutbesudelt. Seine Hose, sein Hemd, alles klebte dunkel an seinem schmächtigen Körper.
Aber das war es nicht, was Walter an dem jungen Mann am meisten schockierte. Es war seine Miene. Leer wirkte sie, voller Panik und gleichzeitig so irre, dass sich Walter der Magen umdrehen wollte. Die Pupillen erschienen wie riesige schwarze Löcher, die ihn aufzusaugen drohten.
» Das ist doch…«
Lukas musste nicht zu Ende sprechen, denn Walter hatte den jungen Mann selbst erkannt. Es war der Kerl, nach dem die ganze Stadt fahndete.
Es war Alexander Ellwanger.
25. Kapitel
Ira hatte sich wirklich Mühe gegeben, aus dem wenigen, das sie in Faris’ Schränken gefunden hatte, ein Frühstück zu zaubern. Sie hatte Teller, Besteck und Tassen auf den Tisch gestellt, ein paar Scheiben Toast und ein fast leeres Glas Marmelade dazu. Die Schale mit frischem Obst, auf das Faris als Einziges nicht verzichten konnte, stand in der Mitte des Tisches.
Jetzt nötigte Ira ihn, sich zu setzen, während sie die Kaffeemaschine anwarf. Als das Wasser durchzulaufen begann, fiel ihr Blick auf eine verstaubte Weinflasche, die Faris oben auf seinem Kühlschrank stehen hatte.
» Die hebst du dir wohl für einen besonderen Tag auf.«
» Eigentlich nicht.« Faris schüttelte den Kopf. Ein Kollege hatte ihm die Flasche
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