40 Stunden
Wagen in die Keithstraße, und bevor er kurz vor sieben Uhr den War Room betrat, blieb er für einen Augenblick im Türrahmen stehen und ließ die Szene auf sich wirken. Seine Kollegen waren fast alle versammelt: Gitta, Ben, Marc und Shannon. Marc und Gitta trugen andere Kleidung als am Vortag, was Faris’ schlechtes Gewissen etwas linderte. Offenbar waren zumindest die beiden ebenfalls zwischenzeitlich zu Hause gewesen. Shannon hingegen hatte noch dieselben Klamotten an wie gestern, und auch Ben schien sich nicht umgezogen zu haben, obwohl das bei ihm schwierig zu sagen war. Er kleidete sich in immer die gleichen sandfarbenen Pullover und Hosen.
Die rote Zahl des Countdowns war inzwischen auf siebzehn Stunden geschrumpft.
Auf der ehemals weißen Fläche der Fallwand hingen nun Dutzende von Fotos. Fotos von dem völlig zerstörten U-Bahnhof, von den Computertrümmern in Hesses Domizil, von der ausgebrannten Gartenlaube. Fotos der Opfer, sofern man sie hatte identifizieren können. Faris sah das Gesicht einer bekannten Berliner Schauspielerin, die in der U-Bahn gewesen war. Und er sah Bilder mehrerer Jugendlicher, von Personalausweisen abfotografiert. Die alte Nonne mit den hellen Augen war ebenfalls dabei. Ihre Leiche wirkte sonderbar unversehrt, fast so, als habe Gott noch im Tod die Hand über sie gehalten. Faris betrachtete das schmale, blasse Gesicht der alten Frau eine Weile und ließ seinen Blick dann weiterwandern. Beim Anblick einer verkohlten Leiche hob sich sein Magen. Paul!, schrie sein Hirn, und erst beim zweiten Hinsehen las er den Namen, der über dem Foto stand. Bobby. Er begriff, dass es der Obdachlose war. Der Platz, an dem eigentlich ein Foto von Paul hätte hängen müssen, war leer. Die kahle Stelle an der sonst so überladenen Wand schien Faris wie ein Abbild seines eigenen Inneren.
Gitta bemerkte ihn zuerst.
» Faris!« Sie war auf den Beinen und in seinen Armen, bevor er auch nur Luft holen konnte. » Oh, Faris!« Sie klammerte sich an ihn, aber nur einen kurzen Moment. Dann schob sie ihn von sich, betrachtete ihn. Tränen rannen in breiten Strömen ihre Wangen hinunter, tropften von ihrem Unterkiefer und fielen zu Boden.
» Gitta.« Selbst dieses eine Wort blieb ihm beinahe in der Kehle stecken. Sein T-Shirt war durchnässt, wo ihre Wange gelegen hatte.
Gittas Ausbruch hatte auch die anderen auf ihn aufmerksam gemacht. Shannon, die in den Büchern von Werner Ellwanger gelesen hatte, blickte auf. Gleichzeitig mit Marc Sommer erhob sie sich, aber während er hilflos hinter seinem Schreibtisch stehen blieb und sich meilenweit wegzuwünschen schien, kam sie auf Faris zu. Verlegen gab sie ihm die Hand. » So sorry, dear«, sagte sie mit belegter Stimme. Sie hatte den Kopf dabei gesenkt, doch Faris bemerkte trotzdem, dass ihre Lider gerötet waren. Sie weinte nie in Gegenwart der Kollegen, und wenn es einmal nötig war, verschwand sie dafür in der Damentoilette.
Als sie sich umdrehte und zu ihrem Platz zurückkehrte, waren ihre Bewegungen eckig.
Marc rührte sich noch immer nicht. Er schluckte, dann setzte er sich wieder. Faris ließ ihn. Es gab nichts zu sagen.
Ben, der bei Faris’ Eintreten am Telefon gehangen und konzentriert zugehört hatte, beugte sich jetzt zu seinem Computerbildschirm vor. » Danke«, sagte er. » Das hilft uns sehr weiter.« Dann legte er ohne Abschiedsworte auf, stemmte sich in die Höhe und trat Faris entgegen.
Auch er schaffte es nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. » Ich… Scheiße! Was sagt man da?« Er hob den Kopf. Ganz kurz nur streifte sein Blick Faris’ Gesicht, und zu gern hätte Faris gewusst, was er sah. Es schien jedenfalls erschreckend zu sein, denn Ben machte einen raschen Schritt rückwärts. » Mein Beileid!«, stieß er hervor und trat die Flucht an.
Faris sah sich um. Pauls Schreibtischstuhl war der einzige freie Sitzplatz im War Room, und etwas in ihm sträubte sich dagegen, ihn zu benutzen. Also verschränkte er die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Falltisch. Es war überdeutlich, dass Pauls Tod in diesem Raum etwas verändert hatte. Plötzlich strömte von den Menschen, die er so gut kannte, eine düstere Energie aus. Wie Hitze schlug sie Faris entgegen, hüllte ihn ein. Emotionale Radioaktivität, dachte er. Es fühlte sich an, als würde hier drinnen gleich alles in einem außergewöhnlich grellen Lichtblitz vergehen.
» Konzentrieren wir uns darauf, das Schwein zu schnappen!«, sagte er.
Die Erleichterung der anderen war
Weitere Kostenlose Bücher