40 Stunden
schlug neun, als Ira das Pfarrhaus verließ, um sich die vergangene Nacht aus den Knochen zu laufen. Sie rannte durch die morgenkühle Luft und hing dabei ihren Gedanken nach. Nachdem Faris fort gewesen war, hatte sie noch eine Weile an seinem Küchentisch gehockt und vor sich hingestarrt. Aus ihrer Brieftasche hatte sie eine Visitenkarte des Restaurants Da Rossi genommen, von dem sie Faris beim Frühstück erzählt hatte. Sie hatte sie umgedreht und auf die Rückseite ein paar Worte geschrieben.
Ich fand es schön. Ruf mich an, wenn dir danach ist!
Aber gleich darauf waren ihr die beiden Sätze albern und pubertär vorgekommen. Sie hatte die Karte zerknüllt und in den Abfalleimer geworfen. Dann war sie gegangen. Zu Hause hatte sie sich hingelegt, aber es hatte sie nicht im Mindesten überrascht, dass sie nicht schlafen konnte. Die Worte auf der Rückseite der Karte waren ihr bei Licht besehen einfach nur noch peinlich, und am liebsten wäre sie in Faris’ Wohnung zurückgekehrt und hätte die Karte aus dem Abfalleimer geklaubt.
Dass Faris im Traum den Namen Laura gemurmelt hatte, schmerzte sie, aber sie mahnte sich, vernünftig zu bleiben. Sie hatte Faris in einem Moment der Schwäche und Trauer erwischt. An der Art, wie er sich in dieser Nacht an sie geklammert hatte, war das überdeutlich zu sehen gewesen.
Sie beschleunigte ihre Schritte. Gewöhnlich lief sie die ersten Kilometer in mäßigem Tempo, aber heute hatte sie das Bedürfnis, sich richtig zu verausgaben, und so jagte sie mit weit ausgreifenden Schritten durch den Park dahin, bis ihr Atem stoßweise ging und ihre Seiten zu stechen begannen.
Als sie nach einer knappen Stunde ganz und gar durchgeschwitzt war, schlug sie den Weg zurück zum Pfarrhaus ein. Mit leicht zitternden Knien betrat sie ihr Büro.
» Guten Morgen, Veronika.« Ira griff sich ein Handtuch, das neben dem kleinen Waschbecken in der Ecke hing, und rieb sich das Gesicht ab.
» Guten Morgen.« Skeptisch musterte Veronika sie. » Was ist denn mit Ihnen los?«
In diesem Moment war Ira froh über ihr erhitztes Gesicht, denn sie hatte das Gefühl, ihr müsse die vergangene Nacht an der Nasenspitze abzulesen sein. Wäre sie nicht sowieso schon puterrot gewesen, wäre sie mit Sicherheit errötet. » Nur ein kleiner Anfall von Weltflucht«, erwiderte sie lächelnd und hoffte, dass Veronika ihr das abnehmen würde.
Zu ihrer Erleichterung schien die Sekretärin mit ihren Gedanken woanders zu sein. » Hm. Ach so. Dieser Kommissar von der Polizei hat übrigens gerade angerufen. Wie war nochmal sein Name?«
Faris!, hätte Ira beinahe ausgerufen, aber sie riss sich zusammen. » Iskander?«
Veronika nickte. » Genau. Er hat gefragt, ob wir etwas über einen unehelichen Sohn von Werner Ellwanger wissen.«
» Und? Wissen wir?« Ira goss sich Kaffee in eine Tasse aus dem Ein-Euro-Shop, die ein kitschiges Welpenbild zierte. Während sie einen Schuss Milch dazugab, hörte sie Veronika zu.
» Ich war nicht auf Anhieb sicher, aber die Frage hat mich auf einen Gedanken gebracht. Ich habe mich ein bisschen umgehört, bei den alten Frauen aus der Gemeinde und so. Es gab gewisse Gerüchte. Ellwanger soll mal eine Putzfrau gehabt haben, ein junges Ding aus dem Osten, Polen oder Russland oder so. Keine Ahnung, wieso die damals hier war, schließlich gab es ja den Eisernen Vorhang noch. Aber jedenfalls geht das Gerücht um, dass Ellwanger diese Putzfrau geschwängert hat. Irgendwann Mitte der Siebziger muss das gewesen sein. Sie war plötzlich wie von der Bildfläche verschwunden. Vermutlich in die Heimat zurückgekehrt, um das Kind auszutragen.«
Ein uneheliches Kind. Ira musste die Bilder von Ellwanger am Kreuz mit Gewalt von sich schieben. Tief atmete sie durch. Ihr vom Laufen beschleunigter Pulsschlag beruhigte sich langsam, der Schweiß auf ihrem Körper begann zu trocknen.
» Ich habe dann noch ein bisschen weitergebohrt.« Veronika lächelte wie eine Katze, die eben den Kanarienvogel verspeist hatte. » Eine der alten Damen konnte sich an diese Putzfrau erinnern. Und sogar an ihren Namen.«
Keine Minute später saß Ira in ihrem Büro am Schreibtisch und griff nach dem Telefon. Paul Sievers hatte ihr seine Visitenkarte gegeben, und sie hoffte, dass sie unter dieser Nummer jemanden erreichte. Ihre Finger zitterten ein wenig, als sie wählte. Die Vorstellung, gleich Faris’ Stimme zu hören, versetzte sie in größere Aufruhr, als sie es jemals nach Thomas’ Fortgehen für möglich gehalten
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