40 Stunden
dass es bis gestern hier offenbar noch ziemlich warm und sonnig gewesen war. » Der liebe Gott hätte für besseres Wetter sorgen können. Wenn sich dieser Tage schon seine beiden großen Kirchen wiedervereinigen!«
Pias Hand glitt unter der Bettdecke hervor. » Red net so!«, mahnte sie und ahmte dabei den schwäbischen Dialekt ihrer Mutter nach. » Des isch Gotteslästerung!«
Jenny streckte ihr grinsend die Zunge heraus. Sie dachte daran, was für ein Kampf es gewesen war, bis sie die Erlaubnis bekommen hatte, allein mit Pia nach Berlin zu fahren. Nur die Tatsache, dass der Kirchentag ihr Ziel war– und vor allem das Versprechen, dass sie am Gottesdienst des Papstes teilnehmen würden–, hatte ihre Eltern am Ende zum Einlenken bewogen. Mit leichtem Unbehagen dachte Jenny an die Streitereien, die es gegeben hatte. Sie zog ihren gelben Schlafanzug aus, verstaute ihn im Rucksack und schlüpfte anschließend in Jeans und Sweater. Draußen sah es kühl aus.
Aber was machte das schon? Sie war hier. In Berlin. Zusammen mit Pia. Sie würde den Papst sehen. Sie streifte ihre Turnschuhe über, dann schlüpfte sie in die Jeansjacke, die ihr Vater ihr extra für diese Reise spendiert hatte. Etwas bohrte sich wie ein Finger in ihre Seite, und sie tastete in der Tasche danach. Es war das Knicklicht, das sie sich gleich bei ihrer Ankunft bei einem der Souvenirhändler gekauft hatte. Sie wollte es morgen beim großen Abschlussgottesdienst benutzen. Sie schob es etwas bequemer zurecht, sodass es sie nicht mehr störte. Dann wanderten ihre Gedanken zu dem süßen Typen mit den Tattoos zurück.
Ob er heute wieder beim Abendessen sein würde?
Diesmal, das schwor sie sich, würde sie ihn anquatschen.
***
Um kurz vor halb zehn fand sich Faris im sogenannten War Room wieder– dem Großraumbüro im obersten Stockwerk des LKA -Gebäudes in der Keithstraße.
In diesem Raum hatte die Abteilung 119 ihren Sitz, die erst seit wenigen Jahren existierte. Damals hatte es in der Stadt eine Reihe von brutalen Ehrenmorden gegeben. In ihrer Folge war es dem leitenden Kriminaldirektor des LKA gelungen, dem Innensenator Geld für die Gründung einer zusätzlichen Mordkommission aus den Rippen zu leiern. Und da diese Mordkommission seitdem stets einberufen wurde, wenn es um Verbrechen in Verbindung mit Religion ging, bekam sie inoffiziell schnell den Namen SERV – Sondereinheit für die Ermittlung bei religiös motivierten Verbrechen.
» Andersen weiß nichts von deiner Suspendierung, das ist dir klar, oder?«, fragte Paul, der ihn ins Büro gefahren hatte.
Faris saß an dem Schreibtisch, der bis vor Kurzem sein eigener gewesen war– vor der Explosion und vor allem vor der Suspendierung. Die Schreibtischunterlage war noch dieselbe, die er von zu Hause mitgebracht hatte: ein altes Papierding, das er irgendwann mal als Werbegeschenk von einer Autowerkstatt erhalten hatte. Sonst jedoch erinnerte nicht mehr viel an seine Anwesenheit hier. Seine alte Kaffeetasse war durch ein teuer aussehendes mattschwarzes Ding ersetzt worden. Statt des Bildes von Anisah, seiner Schwester, stand jetzt ein stylisch wirkender Plexiglaswürfel auf dem Tisch, in dem Schnappschüsse von mehreren gut aussehenden jungen Leuten steckten.
Faris verschränkte die Hände vor sich auf der Platte und starrte ausdruckslos vor sich hin. In der Stille des Raumes war das Klingeln in seinen Ohren unangenehm deutlich zu hören. » Wir sollten es vorerst dabei belassen«, schlug er vor. Ihm kam das Smartphone in seiner Tasche in den Sinn. Der Anrufer hatte einen Grund dafür gehabt, ausgerechnet ihn anzurufen, und er wollte herausfinden, was dieser Grund war.
» Wo sind die anderen?«, erkundigte er sich.
Die SERV bestand aus einem Team von sieben ständigen Ermittlern und einem Verbindungsmann zum Kriminaltechnischen Institut. Von diesen acht Beamten hätte eigentlich mindestens die Hälfte Dienst haben müssen. Trotzdem war der War Room bis auf Faris und Paul verwaist.
» Einsatzbesprechung«, vermutete Paul. » Die werden bestimmt gerade alle über die Vorkommnisse informiert.«
Faris zwang sich, tief durchzuatmen. Seine Schulter schmerzte von dem Aufprall an der Wand der U-Bahn-Station. Er stand auf und trat an das Waschbecken in der Ecke des Raumes. Schwer stützte er sich auf dem Rand ab und starrte in den Spiegel. Seine Augen waren gerötet, die Haut unnatürlich bleich von dem feinen Betonstaub, der sich wie ein Schleier über seinen ganzen Körper gelegt hatte.
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